Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

so reinlich und sauber geschrieben' fügte er mit gutmüthiger Jronie hinzu, denn bei den kühnen, nicht sehr lesbaren Zügen seiner Hand schien er selbst nicht viel auf deutliche Schrift zu halten. Jm Zimmer auf und abgehend las er die einzelnen Blätter, während ein zahmer Kanarienvogel, in zierlicher Bewegung mit den Flügeln sich im Gleichgewicht haltend, auf seinem Kopfe saß, in dessen vollen Locken es ihm sehr behaglich zu seyn schien. Dies edle Haupt ruht nun schon seit Jahren im Grab, aber noch heute bewegt mich die Erinnerung an ihn, als hätte ich ihn erst gestern zum letztenmal gesehen, als stehe er noch auf grüner Erde, wie ein Baum, der seine Krone in der Morgensonnen schüttelt.

Jhre Kinder sind groß geworden, und bedürfen der Märchen nicht mehr: Sie selbst haben schwerlich Veranlassung sie wieder zu lesen, aber die unversiegbare Jugend Jhres Herzens nimmt doch das Geschenk treuer Freundschaft und Liebe gerne von uns an.

W.

so reinlich und sauber geschrieben’ fuͤgte er mit gutmuͤthiger Jronie hinzu, denn bei den kuͤhnen, nicht sehr lesbaren Zuͤgen seiner Hand schien er selbst nicht viel auf deutliche Schrift zu halten. Jm Zimmer auf und abgehend las er die einzelnen Blaͤtter, waͤhrend ein zahmer Kanarienvogel, in zierlicher Bewegung mit den Fluͤgeln sich im Gleichgewicht haltend, auf seinem Kopfe saß, in dessen vollen Locken es ihm sehr behaglich zu seyn schien. Dies edle Haupt ruht nun schon seit Jahren im Grab, aber noch heute bewegt mich die Erinnerung an ihn, als haͤtte ich ihn erst gestern zum letztenmal gesehen, als stehe er noch auf gruͤner Erde, wie ein Baum, der seine Krone in der Morgensonnen schuͤttelt.

Jhre Kinder sind groß geworden, und beduͤrfen der Maͤrchen nicht mehr: Sie selbst haben schwerlich Veranlassung sie wieder zu lesen, aber die unversiegbare Jugend Jhres Herzens nimmt doch das Geschenk treuer Freundschaft und Liebe gerne von uns an.

W.

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div type="dedication">
        <p><pb facs="#f0009" n="VI"/>
so reinlich und sauber geschrieben&#x2019; fu&#x0364;gte er mit gutmu&#x0364;thiger Jronie hinzu, denn bei den ku&#x0364;hnen, nicht sehr lesbaren Zu&#x0364;gen seiner Hand schien er selbst nicht viel auf deutliche Schrift zu halten. Jm Zimmer auf und abgehend las er die einzelnen Bla&#x0364;tter, wa&#x0364;hrend ein zahmer Kanarienvogel, in zierlicher Bewegung mit den Flu&#x0364;geln sich im Gleichgewicht haltend, auf seinem Kopfe saß, in dessen vollen Locken es ihm sehr behaglich zu seyn schien. Dies edle Haupt ruht nun schon seit Jahren im Grab, aber noch heute bewegt mich die Erinnerung an ihn, als ha&#x0364;tte ich ihn erst gestern zum letztenmal gesehen, als stehe er noch auf gru&#x0364;ner Erde, wie ein Baum, der seine Krone in der Morgensonnen schu&#x0364;ttelt.</p><lb/>
        <p>Jhre Kinder sind groß geworden, und bedu&#x0364;rfen der Ma&#x0364;rchen nicht mehr: Sie selbst haben schwerlich Veranlassung sie wieder zu lesen, aber die unversiegbare Jugend Jhres Herzens nimmt doch das Geschenk treuer Freundschaft und Liebe gerne von uns an.</p><lb/>
        <p rendition="#right">W.</p>
      </div><lb/>
    </front>
  </text>
</TEI>
[VI/0009] so reinlich und sauber geschrieben’ fuͤgte er mit gutmuͤthiger Jronie hinzu, denn bei den kuͤhnen, nicht sehr lesbaren Zuͤgen seiner Hand schien er selbst nicht viel auf deutliche Schrift zu halten. Jm Zimmer auf und abgehend las er die einzelnen Blaͤtter, waͤhrend ein zahmer Kanarienvogel, in zierlicher Bewegung mit den Fluͤgeln sich im Gleichgewicht haltend, auf seinem Kopfe saß, in dessen vollen Locken es ihm sehr behaglich zu seyn schien. Dies edle Haupt ruht nun schon seit Jahren im Grab, aber noch heute bewegt mich die Erinnerung an ihn, als haͤtte ich ihn erst gestern zum letztenmal gesehen, als stehe er noch auf gruͤner Erde, wie ein Baum, der seine Krone in der Morgensonnen schuͤttelt. Jhre Kinder sind groß geworden, und beduͤrfen der Maͤrchen nicht mehr: Sie selbst haben schwerlich Veranlassung sie wieder zu lesen, aber die unversiegbare Jugend Jhres Herzens nimmt doch das Geschenk treuer Freundschaft und Liebe gerne von uns an. W.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Göttinger Digitalisierungszentrum: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-06-15T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1837/9
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1837/9>, abgerufen am 21.12.2024.