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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837.

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und das Knauel zeigte ihr den Weg. Die Kinder, die aus der Ferne jemand kommen sahen, meinten ihr lieber Vater käme zu ihnen, und sprangen ihm voll Freude entgegen. Da warf sie über ein jedes eins von den Hemdchen, und wie das ihren Leib berührt hatte, verwandelten sie sich in Schwäne, und flogen davon über den Wald hinweg. Die Königin gieng ganz vergnügt nach Haus, und glaubte ihre Stiefkinder los zu seyn, aber das Mädchen war nicht mitgelaufen, und sie wußte nichts von ihm. Andern Tags kam der König, und wollte seine Kinder besuchen, er fand aber niemand als das Mädchen. 'Wo sind deine Brüder?' fragte der König. 'Ach, lieber Vater' antwortete es, 'die sind fort, und haben mich allein zurückgelassen,' und erzählte ihm daß es aus seinem Fensterlein mit angesehen habe wie seine Brüder als Schwäne über den Wald weg geflogen wären, und zeigte ihm die Federn, die sie in dem Hof hatten fallen lassen, und die es aufgelesen hatte. Der König trauerte, aber er dachte nicht daß die Königin die böse That vollbracht hätte, und weil er fürchtete das Mädchen würde ihm auch geraubt, so wollte er es mit fortnehmen. Aber es hatte Angst vor der Stiefmutter, und bat den König daß es nur noch diese Nacht im Waldschloß bleiben dürfte.

Das arme Mädchen dachte aber 'meines Bleibens ist nicht länger hier, ich will gehen und meine Brüder suchen.' Und als die Nacht kam, entfloh es und gieng geradezu in den Wald hinein. Es gieng die ganze Nacht durch und auch den andern

und das Knauel zeigte ihr den Weg. Die Kinder, die aus der Ferne jemand kommen sahen, meinten ihr lieber Vater kaͤme zu ihnen, und sprangen ihm voll Freude entgegen. Da warf sie uͤber ein jedes eins von den Hemdchen, und wie das ihren Leib beruͤhrt hatte, verwandelten sie sich in Schwaͤne, und flogen davon uͤber den Wald hinweg. Die Koͤnigin gieng ganz vergnuͤgt nach Haus, und glaubte ihre Stiefkinder los zu seyn, aber das Maͤdchen war nicht mitgelaufen, und sie wußte nichts von ihm. Andern Tags kam der Koͤnig, und wollte seine Kinder besuchen, er fand aber niemand als das Maͤdchen. ‘Wo sind deine Bruͤder?’ fragte der Koͤnig. ‘Ach, lieber Vater’ antwortete es, ‘die sind fort, und haben mich allein zuruͤckgelassen,’ und erzaͤhlte ihm daß es aus seinem Fensterlein mit angesehen habe wie seine Bruͤder als Schwaͤne uͤber den Wald weg geflogen waͤren, und zeigte ihm die Federn, die sie in dem Hof hatten fallen lassen, und die es aufgelesen hatte. Der Koͤnig trauerte, aber er dachte nicht daß die Koͤnigin die boͤse That vollbracht haͤtte, und weil er fuͤrchtete das Maͤdchen wuͤrde ihm auch geraubt, so wollte er es mit fortnehmen. Aber es hatte Angst vor der Stiefmutter, und bat den Koͤnig daß es nur noch diese Nacht im Waldschloß bleiben duͤrfte.

Das arme Maͤdchen dachte aber ‘meines Bleibens ist nicht laͤnger hier, ich will gehen und meine Bruͤder suchen.’ Und als die Nacht kam, entfloh es und gieng geradezu in den Wald hinein. Es gieng die ganze Nacht durch und auch den andern

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[293/0324] und das Knauel zeigte ihr den Weg. Die Kinder, die aus der Ferne jemand kommen sahen, meinten ihr lieber Vater kaͤme zu ihnen, und sprangen ihm voll Freude entgegen. Da warf sie uͤber ein jedes eins von den Hemdchen, und wie das ihren Leib beruͤhrt hatte, verwandelten sie sich in Schwaͤne, und flogen davon uͤber den Wald hinweg. Die Koͤnigin gieng ganz vergnuͤgt nach Haus, und glaubte ihre Stiefkinder los zu seyn, aber das Maͤdchen war nicht mitgelaufen, und sie wußte nichts von ihm. Andern Tags kam der Koͤnig, und wollte seine Kinder besuchen, er fand aber niemand als das Maͤdchen. ‘Wo sind deine Bruͤder?’ fragte der Koͤnig. ‘Ach, lieber Vater’ antwortete es, ‘die sind fort, und haben mich allein zuruͤckgelassen,’ und erzaͤhlte ihm daß es aus seinem Fensterlein mit angesehen habe wie seine Bruͤder als Schwaͤne uͤber den Wald weg geflogen waͤren, und zeigte ihm die Federn, die sie in dem Hof hatten fallen lassen, und die es aufgelesen hatte. Der Koͤnig trauerte, aber er dachte nicht daß die Koͤnigin die boͤse That vollbracht haͤtte, und weil er fuͤrchtete das Maͤdchen wuͤrde ihm auch geraubt, so wollte er es mit fortnehmen. Aber es hatte Angst vor der Stiefmutter, und bat den Koͤnig daß es nur noch diese Nacht im Waldschloß bleiben duͤrfte. Das arme Maͤdchen dachte aber ‘meines Bleibens ist nicht laͤnger hier, ich will gehen und meine Bruͤder suchen.’ Und als die Nacht kam, entfloh es und gieng geradezu in den Wald hinein. Es gieng die ganze Nacht durch und auch den andern

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1837/324>, abgerufen am 22.11.2024.