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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837.

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daß sie die arme Rapunzel in eine Wüstenei brachte, wo sie in großem Jammer und Elend leben mußte.

Denselben Tag aber, wo sie Rapunzel verstossen hatte, machte die Zauberin Abends die abgeschnittenen Haare oben am Fensterhacken fest, und als der Königssohn kam und rief

'Rapunzel, Rapunzel,
laß dein Haar herunter'

so ließ sie die Haare hinab, aber der arme Königssohn fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit bösen und giftigen Blicken ansah, und zu ihm sprach 'für dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken' Der Königssohn gerieth außer sich vor Schmerz, und in der Verzweiflung stürzte er sich den Thurm herab: das Leben brachte er davon, aber die beiden Augen waren verletzt. Blind irrte er im Walde umher, aß nichts als Wurzeln und Beeren, und that nichts als jammern und weinen über den Verlust seiner liebsten Frau. So irrte er einige Jahre umher, und gerieth endlich in die Wüstenei, wo Rapunzel mit den Zwillingen, die sie geboren hatte, einem Knaben und Mädchen, kümmerlich lebte. Er vernahm eine Stimme, und sie däuchte ihn so bekannt: da gieng er darauf zu, und wie er heran kam, erkannte ihn Rapunzel, und fiel ihm um den Hals und weinte. Zwei von ihren Thränen aber benetzten seine Augen, da wurden sie wieder klar, und er konnte damit sehen wie sonst. Er führte sie in sein Reich, und sie lebten noch lange glücklich und vergnügt.



daß sie die arme Rapunzel in eine Wuͤstenei brachte, wo sie in großem Jammer und Elend leben mußte.

Denselben Tag aber, wo sie Rapunzel verstossen hatte, machte die Zauberin Abends die abgeschnittenen Haare oben am Fensterhacken fest, und als der Koͤnigssohn kam und rief

‘Rapunzel, Rapunzel,
laß dein Haar herunter’

so ließ sie die Haare hinab, aber der arme Koͤnigssohn fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit boͤsen und giftigen Blicken ansah, und zu ihm sprach ‘fuͤr dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken’ Der Koͤnigssohn gerieth außer sich vor Schmerz, und in der Verzweiflung stuͤrzte er sich den Thurm herab: das Leben brachte er davon, aber die beiden Augen waren verletzt. Blind irrte er im Walde umher, aß nichts als Wurzeln und Beeren, und that nichts als jammern und weinen uͤber den Verlust seiner liebsten Frau. So irrte er einige Jahre umher, und gerieth endlich in die Wuͤstenei, wo Rapunzel mit den Zwillingen, die sie geboren hatte, einem Knaben und Maͤdchen, kuͤmmerlich lebte. Er vernahm eine Stimme, und sie daͤuchte ihn so bekannt: da gieng er darauf zu, und wie er heran kam, erkannte ihn Rapunzel, und fiel ihm um den Hals und weinte. Zwei von ihren Thraͤnen aber benetzten seine Augen, da wurden sie wieder klar, und er konnte damit sehen wie sonst. Er fuͤhrte sie in sein Reich, und sie lebten noch lange gluͤcklich und vergnuͤgt.



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[80/0111] daß sie die arme Rapunzel in eine Wuͤstenei brachte, wo sie in großem Jammer und Elend leben mußte. Denselben Tag aber, wo sie Rapunzel verstossen hatte, machte die Zauberin Abends die abgeschnittenen Haare oben am Fensterhacken fest, und als der Koͤnigssohn kam und rief ‘Rapunzel, Rapunzel, laß dein Haar herunter’ so ließ sie die Haare hinab, aber der arme Koͤnigssohn fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit boͤsen und giftigen Blicken ansah, und zu ihm sprach ‘fuͤr dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken’ Der Koͤnigssohn gerieth außer sich vor Schmerz, und in der Verzweiflung stuͤrzte er sich den Thurm herab: das Leben brachte er davon, aber die beiden Augen waren verletzt. Blind irrte er im Walde umher, aß nichts als Wurzeln und Beeren, und that nichts als jammern und weinen uͤber den Verlust seiner liebsten Frau. So irrte er einige Jahre umher, und gerieth endlich in die Wuͤstenei, wo Rapunzel mit den Zwillingen, die sie geboren hatte, einem Knaben und Maͤdchen, kuͤmmerlich lebte. Er vernahm eine Stimme, und sie daͤuchte ihn so bekannt: da gieng er darauf zu, und wie er heran kam, erkannte ihn Rapunzel, und fiel ihm um den Hals und weinte. Zwei von ihren Thraͤnen aber benetzten seine Augen, da wurden sie wieder klar, und er konnte damit sehen wie sonst. Er fuͤhrte sie in sein Reich, und sie lebten noch lange gluͤcklich und vergnuͤgt.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1837/111>, abgerufen am 19.12.2024.