Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837.die Jäger Abends umzingelt, und einer verwundete es ein wenig am Fuß, so daß es hinken mußte, und langsam fortlief. Da schlich ihm ein Jäger nach bis zu dem Häuschen, und hörte wie es rief 'mein Schwesterlein, laß mich herein,' und sah daß die Thüre ihm aufgethan und alsbald wieder zugeschlossen wurde. Der Jäger behielt das alles wohl im Sinn, gieng zum König und erzählte ihm was er gesehn und gehört hatte. Da sprach der König 'morgen soll noch einmal gejagt werden.' Das Schwesterchen aber war recht erschrocken, als das Rehkälbchen verwundet herein kam; es wusch ihm das Blut ab, legte Kräuter auf, und sprach 'geh auf dein Lager, lieb Rehchen, daß du wieder heil wirst.' Die Wunde war aber so gering, daß das Rehchen am Morgen nichts mehr davon spürte; und als es die Jagdlust wieder draußen hörte, sprach es 'ich kanns nicht aushalten, ich muß dabei seyn; so bald soll mich auch keiner kriegen.' Das Schwesterchen weinte, und sprach 'nun werden sie dich tödten, ich laß dich nicht hinaus.' 'So sterb ich dir hier vor Betrübnis, wenn du mich abhältst,' antwortete es 'wenn ich das Hüfthorn höre, so mein ich, ich müßt aus den Schuhen springen!' Da konnte das Schwesterchen nicht anders, und schloß ihm mit schwerem Herzen die Thüre auf, und das Rehchen sprang gesund und fröhlich in den Wald. Als es der König erblickte, sprach er zu seinen Jägern 'nun jagt ihm nach den ganzen Tag bis in die Nacht, aber daß ihm keiner etwas zu Leide thut.' Wie die Sonne untergegangen war, da sprach die Jaͤger Abends umzingelt, und einer verwundete es ein wenig am Fuß, so daß es hinken mußte, und langsam fortlief. Da schlich ihm ein Jaͤger nach bis zu dem Haͤuschen, und hoͤrte wie es rief ‘mein Schwesterlein, laß mich herein,’ und sah daß die Thuͤre ihm aufgethan und alsbald wieder zugeschlossen wurde. Der Jaͤger behielt das alles wohl im Sinn, gieng zum Koͤnig und erzaͤhlte ihm was er gesehn und gehoͤrt hatte. Da sprach der Koͤnig ‘morgen soll noch einmal gejagt werden.’ Das Schwesterchen aber war recht erschrocken, als das Rehkaͤlbchen verwundet herein kam; es wusch ihm das Blut ab, legte Kraͤuter auf, und sprach ‘geh auf dein Lager, lieb Rehchen, daß du wieder heil wirst.’ Die Wunde war aber so gering, daß das Rehchen am Morgen nichts mehr davon spuͤrte; und als es die Jagdlust wieder draußen hoͤrte, sprach es ‘ich kanns nicht aushalten, ich muß dabei seyn; so bald soll mich auch keiner kriegen.’ Das Schwesterchen weinte, und sprach ‘nun werden sie dich toͤdten, ich laß dich nicht hinaus.’ ‘So sterb ich dir hier vor Betruͤbnis, wenn du mich abhaͤltst,’ antwortete es ‘wenn ich das Huͤfthorn hoͤre, so mein ich, ich muͤßt aus den Schuhen springen!’ Da konnte das Schwesterchen nicht anders, und schloß ihm mit schwerem Herzen die Thuͤre auf, und das Rehchen sprang gesund und froͤhlich in den Wald. Als es der Koͤnig erblickte, sprach er zu seinen Jaͤgern ‘nun jagt ihm nach den ganzen Tag bis in die Nacht, aber daß ihm keiner etwas zu Leide thut.’ Wie die Sonne untergegangen war, da sprach <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0102" n="71"/> die Jaͤger Abends umzingelt, und einer verwundete es ein wenig am Fuß, so daß es hinken mußte, und langsam fortlief. Da schlich ihm ein Jaͤger nach bis zu dem Haͤuschen, und hoͤrte wie es rief ‘mein Schwesterlein, laß mich herein,’ und sah daß die Thuͤre ihm aufgethan und alsbald wieder zugeschlossen wurde. Der Jaͤger behielt das alles wohl im Sinn, gieng zum Koͤnig und erzaͤhlte ihm was er gesehn und gehoͤrt hatte. Da sprach der Koͤnig ‘morgen soll noch einmal gejagt werden.’</p><lb/> <p>Das Schwesterchen aber war recht erschrocken, als das Rehkaͤlbchen verwundet herein kam; es wusch ihm das Blut ab, legte Kraͤuter auf, und sprach ‘geh auf dein Lager, lieb Rehchen, daß du wieder heil wirst.’ Die Wunde war aber so gering, daß das Rehchen am Morgen nichts mehr davon spuͤrte; und als es die Jagdlust wieder draußen hoͤrte, sprach es ‘ich kanns nicht aushalten, ich muß dabei seyn; so bald soll mich auch keiner kriegen.’ Das Schwesterchen weinte, und sprach ‘nun werden sie dich toͤdten, ich laß dich nicht hinaus.’ ‘So sterb ich dir hier vor Betruͤbnis, wenn du mich abhaͤltst,’ antwortete es ‘wenn ich das Huͤfthorn hoͤre, so mein ich, ich muͤßt aus den Schuhen springen!’ Da konnte das Schwesterchen nicht anders, und schloß ihm mit schwerem Herzen die Thuͤre auf, und das Rehchen sprang gesund und froͤhlich in den Wald. Als es der Koͤnig erblickte, sprach er zu seinen Jaͤgern ‘nun jagt ihm nach den ganzen Tag bis in die Nacht, aber daß ihm keiner etwas zu Leide thut.’ Wie die Sonne untergegangen war, da sprach </p> </div> </body> </text> </TEI> [71/0102]
die Jaͤger Abends umzingelt, und einer verwundete es ein wenig am Fuß, so daß es hinken mußte, und langsam fortlief. Da schlich ihm ein Jaͤger nach bis zu dem Haͤuschen, und hoͤrte wie es rief ‘mein Schwesterlein, laß mich herein,’ und sah daß die Thuͤre ihm aufgethan und alsbald wieder zugeschlossen wurde. Der Jaͤger behielt das alles wohl im Sinn, gieng zum Koͤnig und erzaͤhlte ihm was er gesehn und gehoͤrt hatte. Da sprach der Koͤnig ‘morgen soll noch einmal gejagt werden.’
Das Schwesterchen aber war recht erschrocken, als das Rehkaͤlbchen verwundet herein kam; es wusch ihm das Blut ab, legte Kraͤuter auf, und sprach ‘geh auf dein Lager, lieb Rehchen, daß du wieder heil wirst.’ Die Wunde war aber so gering, daß das Rehchen am Morgen nichts mehr davon spuͤrte; und als es die Jagdlust wieder draußen hoͤrte, sprach es ‘ich kanns nicht aushalten, ich muß dabei seyn; so bald soll mich auch keiner kriegen.’ Das Schwesterchen weinte, und sprach ‘nun werden sie dich toͤdten, ich laß dich nicht hinaus.’ ‘So sterb ich dir hier vor Betruͤbnis, wenn du mich abhaͤltst,’ antwortete es ‘wenn ich das Huͤfthorn hoͤre, so mein ich, ich muͤßt aus den Schuhen springen!’ Da konnte das Schwesterchen nicht anders, und schloß ihm mit schwerem Herzen die Thuͤre auf, und das Rehchen sprang gesund und froͤhlich in den Wald. Als es der Koͤnig erblickte, sprach er zu seinen Jaͤgern ‘nun jagt ihm nach den ganzen Tag bis in die Nacht, aber daß ihm keiner etwas zu Leide thut.’ Wie die Sonne untergegangen war, da sprach
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