Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.heraus und setzte sich vor den Baum, und seine langen Haare bedeckten es von allen Seiten wie ein Mantel. So saß es lange Zeit und fühlte den Jammer und das Elend der Welt. Einmal zur Frühlingszeit jagte der König des Landes in dem Wald und verfolgte ein Wild und weil es in das Gebüsch geflohen war, das den hohlen Baum umschloß, stieg er ab und riß es von einander und hieb sich mit seinem Schwert einen Weg. Als er nun hindurchgedrungen war, sah er unter dem Baum ein so wunderschönes Mädchen sitzen, das von seinem goldenen Haar bis zu den Fußzehen bedeckt war. Da verwunderte er sich und sprach: "wie bist du in die Einöde gekommen?" Es schwieg aber still, denn es konnte seinen Mund nicht aufthun. Der König sprach weiter: "willst du mit mir auf mein Schloß gehen." Da nickte es bloß ein wenig mit dem Kopf. Der König nahm es auf seinen Arm und trug es auf sein Pferd und führte es heim, wo er ihm Kleider anziehen ließ und ihm alles im Ueberfluß gab. Und ob es gleich nicht sprechen konnte so war es doch so schön und lieblich, daß er es von Herzen lieb gewann, und sich mit ihm vermählte. Als etwa ein Jahr verflossen war, brachte die Königin einen Sohn zur Welt. Darauf in der Nacht, wo sie allein war, erschien ihr die Jungfrau Maria und sprach: willst du nun die Wahrheit sagen und gestehen, daß du die verbotene Thür aufgeschlossen hast, so will ich dir deinen Mund öffnen und dir die Sprache wieder geben, bleibst du aber in der Sünde und leugnest hartnäckig, so nehm ich dein neugebornes Kind mit mir." Da heraus und setzte sich vor den Baum, und seine langen Haare bedeckten es von allen Seiten wie ein Mantel. So saß es lange Zeit und fuͤhlte den Jammer und das Elend der Welt. Einmal zur Fruͤhlingszeit jagte der Koͤnig des Landes in dem Wald und verfolgte ein Wild und weil es in das Gebuͤsch geflohen war, das den hohlen Baum umschloß, stieg er ab und riß es von einander und hieb sich mit seinem Schwert einen Weg. Als er nun hindurchgedrungen war, sah er unter dem Baum ein so wunderschoͤnes Maͤdchen sitzen, das von seinem goldenen Haar bis zu den Fußzehen bedeckt war. Da verwunderte er sich und sprach: „wie bist du in die Einoͤde gekommen?“ Es schwieg aber still, denn es konnte seinen Mund nicht aufthun. Der Koͤnig sprach weiter: „willst du mit mir auf mein Schloß gehen.“ Da nickte es bloß ein wenig mit dem Kopf. Der Koͤnig nahm es auf seinen Arm und trug es auf sein Pferd und fuͤhrte es heim, wo er ihm Kleider anziehen ließ und ihm alles im Ueberfluß gab. Und ob es gleich nicht sprechen konnte so war es doch so schoͤn und lieblich, daß er es von Herzen lieb gewann, und sich mit ihm vermaͤhlte. Als etwa ein Jahr verflossen war, brachte die Koͤnigin einen Sohn zur Welt. Darauf in der Nacht, wo sie allein war, erschien ihr die Jungfrau Maria und sprach: willst du nun die Wahrheit sagen und gestehen, daß du die verbotene Thuͤr aufgeschlossen hast, so will ich dir deinen Mund oͤffnen und dir die Sprache wieder geben, bleibst du aber in der Suͤnde und leugnest hartnaͤckig, so nehm ich dein neugebornes Kind mit mir.“ Da <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0075" n="11"/> heraus und setzte sich vor den Baum, und seine langen Haare bedeckten es von allen Seiten wie ein Mantel. So saß es lange Zeit und fuͤhlte den Jammer und das Elend der Welt.</p><lb/> <p>Einmal zur Fruͤhlingszeit jagte der Koͤnig des Landes in dem Wald und verfolgte ein Wild und weil es in das Gebuͤsch geflohen war, das den hohlen Baum umschloß, stieg er ab und riß es von einander und hieb sich mit seinem Schwert einen Weg. Als er nun hindurchgedrungen war, sah er unter dem Baum ein so wunderschoͤnes Maͤdchen sitzen, das von seinem goldenen Haar bis zu den Fußzehen bedeckt war. Da verwunderte er sich und sprach: „wie bist du in die Einoͤde gekommen?“ Es schwieg aber still, denn es konnte seinen Mund nicht aufthun. Der Koͤnig sprach weiter: „willst du mit mir auf mein Schloß gehen.“ Da nickte es bloß ein wenig mit dem Kopf. Der Koͤnig nahm es auf seinen Arm und trug es auf sein Pferd und fuͤhrte es heim, wo er ihm Kleider anziehen ließ und ihm alles im Ueberfluß gab. Und ob es gleich nicht sprechen konnte so war es doch so schoͤn und lieblich, daß er es von Herzen lieb gewann, und sich mit ihm vermaͤhlte.</p><lb/> <p>Als etwa ein Jahr verflossen war, brachte die Koͤnigin einen Sohn zur Welt. Darauf in der Nacht, wo sie allein war, erschien ihr die Jungfrau Maria und sprach: willst du nun die Wahrheit sagen und gestehen, daß du die verbotene Thuͤr aufgeschlossen hast, so will ich dir deinen Mund oͤffnen und dir die Sprache wieder geben, bleibst du aber in der Suͤnde und leugnest hartnaͤckig, so nehm ich dein neugebornes Kind mit mir.“ Da </p> </div> </body> </text> </TEI> [11/0075]
heraus und setzte sich vor den Baum, und seine langen Haare bedeckten es von allen Seiten wie ein Mantel. So saß es lange Zeit und fuͤhlte den Jammer und das Elend der Welt.
Einmal zur Fruͤhlingszeit jagte der Koͤnig des Landes in dem Wald und verfolgte ein Wild und weil es in das Gebuͤsch geflohen war, das den hohlen Baum umschloß, stieg er ab und riß es von einander und hieb sich mit seinem Schwert einen Weg. Als er nun hindurchgedrungen war, sah er unter dem Baum ein so wunderschoͤnes Maͤdchen sitzen, das von seinem goldenen Haar bis zu den Fußzehen bedeckt war. Da verwunderte er sich und sprach: „wie bist du in die Einoͤde gekommen?“ Es schwieg aber still, denn es konnte seinen Mund nicht aufthun. Der Koͤnig sprach weiter: „willst du mit mir auf mein Schloß gehen.“ Da nickte es bloß ein wenig mit dem Kopf. Der Koͤnig nahm es auf seinen Arm und trug es auf sein Pferd und fuͤhrte es heim, wo er ihm Kleider anziehen ließ und ihm alles im Ueberfluß gab. Und ob es gleich nicht sprechen konnte so war es doch so schoͤn und lieblich, daß er es von Herzen lieb gewann, und sich mit ihm vermaͤhlte.
Als etwa ein Jahr verflossen war, brachte die Koͤnigin einen Sohn zur Welt. Darauf in der Nacht, wo sie allein war, erschien ihr die Jungfrau Maria und sprach: willst du nun die Wahrheit sagen und gestehen, daß du die verbotene Thuͤr aufgeschlossen hast, so will ich dir deinen Mund oͤffnen und dir die Sprache wieder geben, bleibst du aber in der Suͤnde und leugnest hartnaͤckig, so nehm ich dein neugebornes Kind mit mir.“ Da
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/75 |
Zitationshilfe: | Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/75>, abgerufen am 28.07.2024. |