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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.

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Es ist schon vorhin bemerkt, daß diese Poesie es ihrer innern Lebendigkeit überläßt die gute Lehre zu geben; an sich ist es nicht ihr Zweck, am wenigsten ist sie ausgedacht, um irgend eine gefundene moralische Wahrheit aus einander zu setzen. Dagegen sind einige Märchen deutlich auf eine Lehre gerichtet, doch nur indem sie mit dem bestehenden Volksglauben zusammenhängt und daraus die Sage sich gebildet, nicht aber soll sie durch den ersonnenen Gang einer Geschichte, wobei zuletzt eine Erklärung nöthig wird, herausgekünstelt werden. Dahin das Märchen von dem Mütterchen, welches über Gottes Fügungen trauert und in einem nächtlichen Bilde die traurigen Schicksale schaut, die von ihr abgewendet worden; das Märchen von dem Kind, das der gestohlene Heller nicht im Grabe ruhen läßt; das die Hand aus dem Grabe streckt; von der Brautschau, den Schlickerlingen, wodurch Fleiß und Häuslichkeit empfohlen werden; von dem Großvater und Enkel; dem undankbaren Sohn; von der Sonne, die allem Heimlichen zusieht und es an den Tag bringt.

Mehrere sind ganz christlichen Jnhalts und unterscheiden sich durch Reichthum und Mannigfaltigkeit von den einförmigen Legenden. Vor allen ist das Marienkind zu nennen: erst lebt es mit den Engeln in reiner Unschuld, dann, durch die Neugierde zur Sünde verleitet, wird es aus dem Himmel verstoßen. Nun muß es den Schmerz der Erde erfahren, so lang es in der Sünde beharrt, aber in dem Augenblick, wo sich das Herz zu Gott bekehrt, zeigt er sich auch wieder gnädig und alle Noth hört auf. Jn dem Märchen von dem Mädchen ohne Hände ist es

Es ist schon vorhin bemerkt, daß diese Poesie es ihrer innern Lebendigkeit uͤberlaͤßt die gute Lehre zu geben; an sich ist es nicht ihr Zweck, am wenigsten ist sie ausgedacht, um irgend eine gefundene moralische Wahrheit aus einander zu setzen. Dagegen sind einige Maͤrchen deutlich auf eine Lehre gerichtet, doch nur indem sie mit dem bestehenden Volksglauben zusammenhaͤngt und daraus die Sage sich gebildet, nicht aber soll sie durch den ersonnenen Gang einer Geschichte, wobei zuletzt eine Erklaͤrung noͤthig wird, herausgekuͤnstelt werden. Dahin das Maͤrchen von dem Muͤtterchen, welches uͤber Gottes Fuͤgungen trauert und in einem naͤchtlichen Bilde die traurigen Schicksale schaut, die von ihr abgewendet worden; das Maͤrchen von dem Kind, das der gestohlene Heller nicht im Grabe ruhen laͤßt; das die Hand aus dem Grabe streckt; von der Brautschau, den Schlickerlingen, wodurch Fleiß und Haͤuslichkeit empfohlen werden; von dem Großvater und Enkel; dem undankbaren Sohn; von der Sonne, die allem Heimlichen zusieht und es an den Tag bringt.

Mehrere sind ganz christlichen Jnhalts und unterscheiden sich durch Reichthum und Mannigfaltigkeit von den einfoͤrmigen Legenden. Vor allen ist das Marienkind zu nennen: erst lebt es mit den Engeln in reiner Unschuld, dann, durch die Neugierde zur Suͤnde verleitet, wird es aus dem Himmel verstoßen. Nun muß es den Schmerz der Erde erfahren, so lang es in der Suͤnde beharrt, aber in dem Augenblick, wo sich das Herz zu Gott bekehrt, zeigt er sich auch wieder gnaͤdig und alle Noth hoͤrt auf. Jn dem Maͤrchen von dem Maͤdchen ohne Haͤnde ist es

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[XLVI/0054] Es ist schon vorhin bemerkt, daß diese Poesie es ihrer innern Lebendigkeit uͤberlaͤßt die gute Lehre zu geben; an sich ist es nicht ihr Zweck, am wenigsten ist sie ausgedacht, um irgend eine gefundene moralische Wahrheit aus einander zu setzen. Dagegen sind einige Maͤrchen deutlich auf eine Lehre gerichtet, doch nur indem sie mit dem bestehenden Volksglauben zusammenhaͤngt und daraus die Sage sich gebildet, nicht aber soll sie durch den ersonnenen Gang einer Geschichte, wobei zuletzt eine Erklaͤrung noͤthig wird, herausgekuͤnstelt werden. Dahin das Maͤrchen von dem Muͤtterchen, welches uͤber Gottes Fuͤgungen trauert und in einem naͤchtlichen Bilde die traurigen Schicksale schaut, die von ihr abgewendet worden; das Maͤrchen von dem Kind, das der gestohlene Heller nicht im Grabe ruhen laͤßt; das die Hand aus dem Grabe streckt; von der Brautschau, den Schlickerlingen, wodurch Fleiß und Haͤuslichkeit empfohlen werden; von dem Großvater und Enkel; dem undankbaren Sohn; von der Sonne, die allem Heimlichen zusieht und es an den Tag bringt. Mehrere sind ganz christlichen Jnhalts und unterscheiden sich durch Reichthum und Mannigfaltigkeit von den einfoͤrmigen Legenden. Vor allen ist das Marienkind zu nennen: erst lebt es mit den Engeln in reiner Unschuld, dann, durch die Neugierde zur Suͤnde verleitet, wird es aus dem Himmel verstoßen. Nun muß es den Schmerz der Erde erfahren, so lang es in der Suͤnde beharrt, aber in dem Augenblick, wo sich das Herz zu Gott bekehrt, zeigt er sich auch wieder gnaͤdig und alle Noth hoͤrt auf. Jn dem Maͤrchen von dem Maͤdchen ohne Haͤnde ist es

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Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. XLVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/54>, abgerufen am 22.11.2024.