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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.

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Bewußtseyn haben dabei nicht gewirkt, sondern es hat sich also von selbst und aus dem Wesen der Ueberlieferung ergeben, daher sich auch die natürliche Neigung äußert, das von ihr einmal Empfangene, aber halb Unverständliche, nach der Weise der Gegenwart zu erklären und deutlich zu machen. Je mehr das Epische Ueberhand gewinnt, desto mehr wird das Bedeutende verhüllt.

Beweise für die obigen Sätze sind vielfach in den Anmerkungen, in welchen wir überhaupt, was darauf Bezug hat, so gut wir konnten, zusammengestellt, enthalten, und es wird darnach niemand mehr die Behauptung auffallen, daß hier alte, verloren geglaubte, in dieser Gestalt aber noch fortdauernde deutsche Mythen anzuerkennen sind. Wem die Natur der Mythen nicht fremd ist, der weiß, daß sie bei allen Völkern so häufig als Märchen dargestellt wurden, oft nach dem Geist gewisser Zeitalter nicht anders erfaßt werden konnten*).


*) Wie gleicht, um aus vielen nur ein Beispiel anzuführen, die so bedeutende Mythe des unter den Sternbildern selbst glänzenden Perseus völlig einem unserer Märchen. Auch wäre es nicht schwer, in ihm einen Wiederschein von unserm Siegfried zu zeigen. Wie dieser, ist er bei seiner Geburt in einem Kästchen aufs Meer ausgesetzt. Bald unternimmt er, von listiger Falschheit angetrieben, jenes Wagniß mit dem Haupt der Gorgo, wie Siegfried mit Fafner. Er bedarf dazu den unsichtbaren Helm des Aides, welcher dem nordischen Aegirshelm und der Nebelkappe, und die demantne Sichel des Hermes, welche Siegfrieds Balmungen entspricht. Die Wirkungen des Medusenhaupts lassen sich jenen des Hornleibs vergleichen: kein Feind kann fortan vor dem Helden bestehen. Die goldenen Aepfel, welche Perseus in dem Garten des Atlas bricht, sind die Schätze des Horts, die Siegfried sich erwirbt. Andromeda aber, von dem Ungeheuer auf einem Felsen gehalten, von ihm befreit, erscheint als Chriemhilde,

Bewußtseyn haben dabei nicht gewirkt, sondern es hat sich also von selbst und aus dem Wesen der Ueberlieferung ergeben, daher sich auch die natuͤrliche Neigung aͤußert, das von ihr einmal Empfangene, aber halb Unverstaͤndliche, nach der Weise der Gegenwart zu erklaͤren und deutlich zu machen. Je mehr das Epische Ueberhand gewinnt, desto mehr wird das Bedeutende verhuͤllt.

Beweise fuͤr die obigen Saͤtze sind vielfach in den Anmerkungen, in welchen wir uͤberhaupt, was darauf Bezug hat, so gut wir konnten, zusammengestellt, enthalten, und es wird darnach niemand mehr die Behauptung auffallen, daß hier alte, verloren geglaubte, in dieser Gestalt aber noch fortdauernde deutsche Mythen anzuerkennen sind. Wem die Natur der Mythen nicht fremd ist, der weiß, daß sie bei allen Voͤlkern so haͤufig als Maͤrchen dargestellt wurden, oft nach dem Geist gewisser Zeitalter nicht anders erfaßt werden konnten*).


*) Wie gleicht, um aus vielen nur ein Beispiel anzufuͤhren, die so bedeutende Mythe des unter den Sternbildern selbst glaͤnzenden Perseus voͤllig einem unserer Maͤrchen. Auch waͤre es nicht schwer, in ihm einen Wiederschein von unserm Siegfried zu zeigen. Wie dieser, ist er bei seiner Geburt in einem Kaͤstchen aufs Meer ausgesetzt. Bald unternimmt er, von listiger Falschheit angetrieben, jenes Wagniß mit dem Haupt der Gorgo, wie Siegfried mit Fafner. Er bedarf dazu den unsichtbaren Helm des Aïdes, welcher dem nordischen Aegirshelm und der Nebelkappe, und die demantne Sichel des Hermes, welche Siegfrieds Balmungen entspricht. Die Wirkungen des Medusenhaupts lassen sich jenen des Hornleibs vergleichen: kein Feind kann fortan vor dem Helden bestehen. Die goldenen Aepfel, welche Perseus in dem Garten des Atlas bricht, sind die Schaͤtze des Horts, die Siegfried sich erwirbt. Andromeda aber, von dem Ungeheuer auf einem Felsen gehalten, von ihm befreit, erscheint als Chriemhilde,
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[XXVIII/0036] Bewußtseyn haben dabei nicht gewirkt, sondern es hat sich also von selbst und aus dem Wesen der Ueberlieferung ergeben, daher sich auch die natuͤrliche Neigung aͤußert, das von ihr einmal Empfangene, aber halb Unverstaͤndliche, nach der Weise der Gegenwart zu erklaͤren und deutlich zu machen. Je mehr das Epische Ueberhand gewinnt, desto mehr wird das Bedeutende verhuͤllt. Beweise fuͤr die obigen Saͤtze sind vielfach in den Anmerkungen, in welchen wir uͤberhaupt, was darauf Bezug hat, so gut wir konnten, zusammengestellt, enthalten, und es wird darnach niemand mehr die Behauptung auffallen, daß hier alte, verloren geglaubte, in dieser Gestalt aber noch fortdauernde deutsche Mythen anzuerkennen sind. Wem die Natur der Mythen nicht fremd ist, der weiß, daß sie bei allen Voͤlkern so haͤufig als Maͤrchen dargestellt wurden, oft nach dem Geist gewisser Zeitalter nicht anders erfaßt werden konnten *). *) Wie gleicht, um aus vielen nur ein Beispiel anzufuͤhren, die so bedeutende Mythe des unter den Sternbildern selbst glaͤnzenden Perseus voͤllig einem unserer Maͤrchen. Auch waͤre es nicht schwer, in ihm einen Wiederschein von unserm Siegfried zu zeigen. Wie dieser, ist er bei seiner Geburt in einem Kaͤstchen aufs Meer ausgesetzt. Bald unternimmt er, von listiger Falschheit angetrieben, jenes Wagniß mit dem Haupt der Gorgo, wie Siegfried mit Fafner. Er bedarf dazu den unsichtbaren Helm des Aïdes, welcher dem nordischen Aegirshelm und der Nebelkappe, und die demantne Sichel des Hermes, welche Siegfrieds Balmungen entspricht. Die Wirkungen des Medusenhaupts lassen sich jenen des Hornleibs vergleichen: kein Feind kann fortan vor dem Helden bestehen. Die goldenen Aepfel, welche Perseus in dem Garten des Atlas bricht, sind die Schaͤtze des Horts, die Siegfried sich erwirbt. Andromeda aber, von dem Ungeheuer auf einem Felsen gehalten, von ihm befreit, erscheint als Chriemhilde,

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Anmerkungen zur Transkription:

Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. XXVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/36>, abgerufen am 24.11.2024.