Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.25.
Die sieben Raben. Ein Mann hatte sieben Söhne und immer noch kein Töchterchen, so sehr ers auch wünschte, endlich gab ihm seine Frau wieder gute Hoffnung zu einem Kinde und wie's zur Welt kam, wars ein Mädchen. Ob es gleich gar schön war, so wars doch auch schmächtig und klein und sollte wegen seiner Schwachheit die Nothtaufe haben. Da schickte der Vater einen der Knaben eilends zur Quelle, Taufwasser zu holen, aber die andern sechs liefen mit. Jeder wollte aber der erste beim Schöpfen seyn und darüber fiel ihnen der Krug in den Brunnen; da standen sie verlegen und wußten nicht, was sie thun sollten und keiner getraute sich heim. Dem Vater ward unter der Weile angst, das Mädchen müßte ungetauft verscheiden und wußte gar nicht, warum die Jungen so lange ausblieben. "Gewiß, sprach er, haben sies wieder über ein Spiel vergessen! und als sie immer nicht kamen, fluchte er im Aerger: "ich wollte, daß die Jungen alle zu Raben würden!" Kaum war das Wort ausgeredet, so hörte er ein Geschwirr über seinem Haupt in der Luft, blickte auf und sah sieben kohlschwarze Raben auf und davon fliegen. Die Eltern konnten die Verwünschung nicht mehr zurücknehmen, und so traurig sie über den Verlust ihrer sieben Söhne waren, trösteten sie sich einigermaßen durch ihr liebes Töchterchen, das bald zu Kräften kam und mit jedem Tage schöner ward. Es wußte lange Zeit nicht einmal, daß es Geschwister gehabt, denn 25.
Die sieben Raben. Ein Mann hatte sieben Soͤhne und immer noch kein Toͤchterchen, so sehr ers auch wuͤnschte, endlich gab ihm seine Frau wieder gute Hoffnung zu einem Kinde und wie’s zur Welt kam, wars ein Maͤdchen. Ob es gleich gar schoͤn war, so wars doch auch schmaͤchtig und klein und sollte wegen seiner Schwachheit die Nothtaufe haben. Da schickte der Vater einen der Knaben eilends zur Quelle, Taufwasser zu holen, aber die andern sechs liefen mit. Jeder wollte aber der erste beim Schoͤpfen seyn und daruͤber fiel ihnen der Krug in den Brunnen; da standen sie verlegen und wußten nicht, was sie thun sollten und keiner getraute sich heim. Dem Vater ward unter der Weile angst, das Maͤdchen muͤßte ungetauft verscheiden und wußte gar nicht, warum die Jungen so lange ausblieben. „Gewiß, sprach er, haben sies wieder uͤber ein Spiel vergessen! und als sie immer nicht kamen, fluchte er im Aerger: „ich wollte, daß die Jungen alle zu Raben wuͤrden!“ Kaum war das Wort ausgeredet, so hoͤrte er ein Geschwirr uͤber seinem Haupt in der Luft, blickte auf und sah sieben kohlschwarze Raben auf und davon fliegen. Die Eltern konnten die Verwuͤnschung nicht mehr zuruͤcknehmen, und so traurig sie uͤber den Verlust ihrer sieben Soͤhne waren, troͤsteten sie sich einigermaßen durch ihr liebes Toͤchterchen, das bald zu Kraͤften kam und mit jedem Tage schoͤner ward. Es wußte lange Zeit nicht einmal, daß es Geschwister gehabt, denn <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0197" n="133"/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">25.<lb/> Die sieben Raben.</hi> </head><lb/> <p>Ein Mann hatte sieben Soͤhne und immer noch kein Toͤchterchen, so sehr ers auch wuͤnschte, endlich gab ihm seine Frau wieder gute Hoffnung zu einem Kinde und wie’s zur Welt kam, wars ein Maͤdchen. Ob es gleich gar schoͤn war, so wars doch auch schmaͤchtig und klein und sollte wegen seiner Schwachheit die Nothtaufe haben. Da schickte der Vater einen der Knaben eilends zur Quelle, Taufwasser zu holen, aber die andern sechs liefen mit. Jeder wollte aber der erste beim Schoͤpfen seyn und daruͤber fiel ihnen der Krug in den Brunnen; da standen sie verlegen und wußten nicht, was sie thun sollten und keiner getraute sich heim. Dem Vater ward unter der Weile angst, das Maͤdchen <choice><sic>mußte</sic><corr type="corrigenda">muͤßte</corr></choice> ungetauft verscheiden und wußte gar nicht, warum die Jungen so lange ausblieben. „Gewiß, sprach er, haben sies wieder uͤber ein Spiel vergessen! und als sie immer nicht kamen, fluchte er im Aerger: „ich wollte, daß die Jungen alle zu Raben wuͤrden!“ Kaum war das Wort ausgeredet, so hoͤrte er ein Geschwirr uͤber seinem Haupt in der Luft, blickte auf und sah sieben kohlschwarze Raben auf und davon fliegen.</p><lb/> <p>Die Eltern konnten die Verwuͤnschung nicht mehr zuruͤcknehmen, und so traurig sie uͤber den Verlust ihrer sieben Soͤhne waren, troͤsteten sie sich einigermaßen durch ihr liebes Toͤchterchen, das bald zu Kraͤften kam und mit jedem Tage schoͤner ward. Es wußte lange Zeit nicht einmal, daß es Geschwister gehabt, denn </p> </div> </body> </text> </TEI> [133/0197]
25.
Die sieben Raben.
Ein Mann hatte sieben Soͤhne und immer noch kein Toͤchterchen, so sehr ers auch wuͤnschte, endlich gab ihm seine Frau wieder gute Hoffnung zu einem Kinde und wie’s zur Welt kam, wars ein Maͤdchen. Ob es gleich gar schoͤn war, so wars doch auch schmaͤchtig und klein und sollte wegen seiner Schwachheit die Nothtaufe haben. Da schickte der Vater einen der Knaben eilends zur Quelle, Taufwasser zu holen, aber die andern sechs liefen mit. Jeder wollte aber der erste beim Schoͤpfen seyn und daruͤber fiel ihnen der Krug in den Brunnen; da standen sie verlegen und wußten nicht, was sie thun sollten und keiner getraute sich heim. Dem Vater ward unter der Weile angst, das Maͤdchen muͤßte ungetauft verscheiden und wußte gar nicht, warum die Jungen so lange ausblieben. „Gewiß, sprach er, haben sies wieder uͤber ein Spiel vergessen! und als sie immer nicht kamen, fluchte er im Aerger: „ich wollte, daß die Jungen alle zu Raben wuͤrden!“ Kaum war das Wort ausgeredet, so hoͤrte er ein Geschwirr uͤber seinem Haupt in der Luft, blickte auf und sah sieben kohlschwarze Raben auf und davon fliegen.
Die Eltern konnten die Verwuͤnschung nicht mehr zuruͤcknehmen, und so traurig sie uͤber den Verlust ihrer sieben Soͤhne waren, troͤsteten sie sich einigermaßen durch ihr liebes Toͤchterchen, das bald zu Kraͤften kam und mit jedem Tage schoͤner ward. Es wußte lange Zeit nicht einmal, daß es Geschwister gehabt, denn
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Zitationshilfe: | Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/197>, abgerufen am 16.02.2025. |