Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.Schrift theils noch nicht durch Einführung des Fremden stört, oder durch Ueberladung abstumpft, theils, weil sie sichert, dem Gedächtniß noch nicht nachlässig zu werden gestattet, überhaupt bei Völkern, deren Literatur unbedeutend ist, pflegt sich als Ersatz die Ueberlieferung stärker, und ungetrübter zu zeigen. So scheint auch Niedersachsen mehr als andere Gegenden behalten zu haben. Was für eine viel vollständigere und innerlich reichere Sammlung wäre im 15ten Jahrhundert, oder auch noch im 16. zu Hans Sachsens und Fischarts Zeiten in Deutschland möglich gewesen.*) Einer jener guten Zufälle aber war es, daß wir aus dem bei Cassel gelegenen Dorfe Nieder-Zwehrn eine Bäuerin kennen lernten, die uns die meisten und schönsten Märchen des zweiten Bandes erzählte. Diese Frau, Namens *) Merkwürdig ist, daß es bei den Galliern nicht erlaubt war, die überlieferten Gesänge aufzuschreiben, während man sich der Schrift in allen übrigen Angelegenheiten bediente. Cäsar, der dies anmerkt (de B. G. VI. 4.) glaubt, daß man damit habe verhüten wollen, im Vertrauen auf die Schrift, leichtsinnig im Erlernen, und Behalten der Lieder zu werden. Auch Thamus hält dem Theuth (im Phädrus des Plato) bei Erfindung der Buchstaben den Nachtheil vor, den die Schrift auf die Ausbildung des Gedächtnisses haben würde. -- Ueber die ursprüngliche Sitte der Deutschen und Franken bei der Ueberlieferung ihrer Lieder, vergl. Altd. Wälder I. 232-34 und Anm. 4.
Schrift theils noch nicht durch Einfuͤhrung des Fremden stoͤrt, oder durch Ueberladung abstumpft, theils, weil sie sichert, dem Gedaͤchtniß noch nicht nachlaͤssig zu werden gestattet, uͤberhaupt bei Voͤlkern, deren Literatur unbedeutend ist, pflegt sich als Ersatz die Ueberlieferung staͤrker, und ungetruͤbter zu zeigen. So scheint auch Niedersachsen mehr als andere Gegenden behalten zu haben. Was fuͤr eine viel vollstaͤndigere und innerlich reichere Sammlung waͤre im 15ten Jahrhundert, oder auch noch im 16. zu Hans Sachsens und Fischarts Zeiten in Deutschland moͤglich gewesen.*) Einer jener guten Zufaͤlle aber war es, daß wir aus dem bei Cassel gelegenen Dorfe Nieder-Zwehrn eine Baͤuerin kennen lernten, die uns die meisten und schoͤnsten Maͤrchen des zweiten Bandes erzaͤhlte. Diese Frau, Namens *) Merkwuͤrdig ist, daß es bei den Galliern nicht erlaubt war, die uͤberlieferten Gesaͤnge aufzuschreiben, waͤhrend man sich der Schrift in allen uͤbrigen Angelegenheiten bediente. Caͤsar, der dies anmerkt (de B. G. VI. 4.) glaubt, daß man damit habe verhuͤten wollen, im Vertrauen auf die Schrift, leichtsinnig im Erlernen, und Behalten der Lieder zu werden. Auch Thamus haͤlt dem Theuth (im Phaͤdrus des Plato) bei Erfindung der Buchstaben den Nachtheil vor, den die Schrift auf die Ausbildung des Gedaͤchtnisses haben wuͤrde. — Ueber die urspruͤngliche Sitte der Deutschen und Franken bei der Ueberlieferung ihrer Lieder, vergl. Altd. Waͤlder I. 232-34 und Anm. 4.
<TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0019" n="XI"/> Schrift theils noch nicht durch Einfuͤhrung des Fremden stoͤrt, oder durch Ueberladung abstumpft, theils, weil sie sichert, dem Gedaͤchtniß noch nicht nachlaͤssig zu werden gestattet, uͤberhaupt bei Voͤlkern, deren Literatur unbedeutend ist, pflegt sich als Ersatz die Ueberlieferung staͤrker, und ungetruͤbter zu zeigen. So scheint auch Niedersachsen mehr als andere Gegenden behalten zu haben. Was fuͤr eine viel vollstaͤndigere und innerlich reichere Sammlung waͤre im 15ten Jahrhundert, oder auch noch im 16. zu Hans Sachsens und Fischarts Zeiten in Deutschland moͤglich gewesen.<note place="foot" n="*)">Merkwuͤrdig ist, daß es bei den Galliern <hi rendition="#g">nicht erlaubt war</hi>, die uͤberlieferten Gesaͤnge <hi rendition="#g">aufzuschreiben</hi>, waͤhrend man sich der Schrift in allen uͤbrigen Angelegenheiten bediente. Caͤsar, der dies anmerkt <hi rendition="#aq">(de B. G. VI. 4.)</hi> glaubt, daß man damit habe verhuͤten wollen, im Vertrauen auf die Schrift, leichtsinnig im Erlernen, und Behalten der Lieder zu werden. Auch Thamus haͤlt dem Theuth (im Phaͤdrus des Plato) bei Erfindung der Buchstaben den Nachtheil vor, den die Schrift auf die Ausbildung des Gedaͤchtnisses haben wuͤrde. — Ueber die urspruͤngliche Sitte der Deutschen und Franken bei der Ueberlieferung ihrer Lieder, vergl. Altd. Waͤlder <hi rendition="#aq">I.</hi> 232-34 und Anm. 4.</note></p><lb/> <p>Einer jener guten Zufaͤlle aber war es, daß wir aus dem bei Cassel gelegenen Dorfe Nieder-Zwehrn eine Baͤuerin kennen lernten, die uns die meisten und schoͤnsten Maͤrchen des zweiten Bandes erzaͤhlte. Diese Frau, Namens </p> </div> </front> </text> </TEI> [XI/0019]
Schrift theils noch nicht durch Einfuͤhrung des Fremden stoͤrt, oder durch Ueberladung abstumpft, theils, weil sie sichert, dem Gedaͤchtniß noch nicht nachlaͤssig zu werden gestattet, uͤberhaupt bei Voͤlkern, deren Literatur unbedeutend ist, pflegt sich als Ersatz die Ueberlieferung staͤrker, und ungetruͤbter zu zeigen. So scheint auch Niedersachsen mehr als andere Gegenden behalten zu haben. Was fuͤr eine viel vollstaͤndigere und innerlich reichere Sammlung waͤre im 15ten Jahrhundert, oder auch noch im 16. zu Hans Sachsens und Fischarts Zeiten in Deutschland moͤglich gewesen. *)
Einer jener guten Zufaͤlle aber war es, daß wir aus dem bei Cassel gelegenen Dorfe Nieder-Zwehrn eine Baͤuerin kennen lernten, die uns die meisten und schoͤnsten Maͤrchen des zweiten Bandes erzaͤhlte. Diese Frau, Namens
*) Merkwuͤrdig ist, daß es bei den Galliern nicht erlaubt war, die uͤberlieferten Gesaͤnge aufzuschreiben, waͤhrend man sich der Schrift in allen uͤbrigen Angelegenheiten bediente. Caͤsar, der dies anmerkt (de B. G. VI. 4.) glaubt, daß man damit habe verhuͤten wollen, im Vertrauen auf die Schrift, leichtsinnig im Erlernen, und Behalten der Lieder zu werden. Auch Thamus haͤlt dem Theuth (im Phaͤdrus des Plato) bei Erfindung der Buchstaben den Nachtheil vor, den die Schrift auf die Ausbildung des Gedaͤchtnisses haben wuͤrde. — Ueber die urspruͤngliche Sitte der Deutschen und Franken bei der Ueberlieferung ihrer Lieder, vergl. Altd. Waͤlder I. 232-34 und Anm. 4.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/19 |
Zitationshilfe: | Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. XI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/19>, abgerufen am 23.07.2024. |