Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite
"Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?
Nun komm ich noch zweimal und dann nimmermehr!"

Die Kinderfrau antwortete ihr nicht, aber als sie wieder verschwunden war, ging sie zum König und erzählte ihm Alles. Sprach der König: Ach Gott! was ist das! Jch will in der nächsten Nacht bei dem Kind wachen." Abends ging er auch in die Kinderstube, aber um Mitternacht erschien die Königin wieder und sprach:

"Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?
Nun komm ich noch einmal und dann nimmermehr!"

und pflegte dann des Kindes wie gewöhnlich, eh sie wieder verschwand. Der König getraute sich nicht, sie anzureden; aber die folgende Nacht wachte er wieder, da sprach sie abermals:

"Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?
Nun komm ich noch diesmal und dann nimmermehr!"

Da konnte sich der König nicht zurückhalten, sprang zu ihr und sprach: "du kannst niemand anders seyn, als meine liebe Frau?" Da antwortete sie: "Ja, ich bin deine liebe Frau!" und hatte in dem Augenblick durch Gottes Gnade das Leben wieder erhalten, war frisch, roth und gesund. Darauf erzählte sie dem König den Frevel, den die böse Hexe und ihre Tochter an ihr begangen hatten. Der König ließ Beide vor Gericht führen und sie wurden verurtheilt; die Tochter ward in den Wald geführt, wo sie die wilden Thiere zerrissen, wie sie sie erblickten; die Hexe aber ward ins Feuer gelegt und mußte jammervoll verbrennen. Und wie sie davon verzehrt war, verwandelte sich auch das Rehkälbchen und

„Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?
Nun komm ich noch zweimal und dann nimmermehr!“

Die Kinderfrau antwortete ihr nicht, aber als sie wieder verschwunden war, ging sie zum Koͤnig und erzaͤhlte ihm Alles. Sprach der Koͤnig: Ach Gott! was ist das! Jch will in der naͤchsten Nacht bei dem Kind wachen.“ Abends ging er auch in die Kinderstube, aber um Mitternacht erschien die Koͤnigin wieder und sprach:

„Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?
Nun komm ich noch einmal und dann nimmermehr!“

und pflegte dann des Kindes wie gewoͤhnlich, eh sie wieder verschwand. Der Koͤnig getraute sich nicht, sie anzureden; aber die folgende Nacht wachte er wieder, da sprach sie abermals:

„Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?
Nun komm ich noch diesmal und dann nimmermehr!“

Da konnte sich der Koͤnig nicht zuruͤckhalten, sprang zu ihr und sprach: „du kannst niemand anders seyn, als meine liebe Frau?“ Da antwortete sie: „Ja, ich bin deine liebe Frau!“ und hatte in dem Augenblick durch Gottes Gnade das Leben wieder erhalten, war frisch, roth und gesund. Darauf erzaͤhlte sie dem Koͤnig den Frevel, den die boͤse Hexe und ihre Tochter an ihr begangen hatten. Der Koͤnig ließ Beide vor Gericht fuͤhren und sie wurden verurtheilt; die Tochter ward in den Wald gefuͤhrt, wo sie die wilden Thiere zerrissen, wie sie sie erblickten; die Hexe aber ward ins Feuer gelegt und mußte jammervoll verbrennen. Und wie sie davon verzehrt war, verwandelte sich auch das Rehkaͤlbchen und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0129" n="65"/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x201E;Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?</l><lb/>
          <l>Nun komm ich noch zweimal und dann nimmermehr!&#x201C;</l><lb/>
        </lg>
        <p>Die Kinderfrau antwortete ihr nicht, aber als sie wieder verschwunden war, ging sie zum Ko&#x0364;nig und erza&#x0364;hlte ihm Alles. Sprach der Ko&#x0364;nig: Ach Gott! was ist das! Jch will in der na&#x0364;chsten Nacht bei dem Kind wachen.&#x201C; Abends ging er auch in die Kinderstube, aber um Mitternacht erschien die Ko&#x0364;nigin wieder und sprach:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x201E;Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?</l><lb/>
          <l>Nun komm ich noch einmal und dann nimmermehr!&#x201C;</l><lb/>
        </lg>
        <p>und pflegte dann des Kindes wie gewo&#x0364;hnlich, eh sie wieder verschwand. Der Ko&#x0364;nig getraute sich nicht, sie anzureden; aber die folgende Nacht wachte er wieder, da sprach sie abermals:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x201E;Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?</l><lb/>
          <l>Nun komm ich noch diesmal und dann nimmermehr!&#x201C;</l><lb/>
        </lg>
        <p>Da konnte sich der Ko&#x0364;nig nicht zuru&#x0364;ckhalten, sprang zu ihr und sprach: &#x201E;du kannst niemand anders seyn, als meine liebe Frau?&#x201C; Da antwortete sie: &#x201E;Ja, ich bin deine liebe Frau!&#x201C; und hatte in dem Augenblick durch Gottes Gnade das Leben wieder erhalten, war frisch, roth und gesund. Darauf erza&#x0364;hlte sie dem Ko&#x0364;nig den Frevel, den die bo&#x0364;se Hexe und ihre Tochter an ihr begangen hatten. Der Ko&#x0364;nig ließ Beide vor Gericht fu&#x0364;hren und sie wurden verurtheilt; die Tochter ward in den Wald gefu&#x0364;hrt, wo sie die wilden Thiere zerrissen, wie sie sie erblickten; die Hexe aber ward ins Feuer gelegt und mußte jammervoll verbrennen. Und wie sie davon verzehrt war, verwandelte sich auch das Rehka&#x0364;lbchen und
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[65/0129] „Was macht mein Kind? Was macht mein Reh? Nun komm ich noch zweimal und dann nimmermehr!“ Die Kinderfrau antwortete ihr nicht, aber als sie wieder verschwunden war, ging sie zum Koͤnig und erzaͤhlte ihm Alles. Sprach der Koͤnig: Ach Gott! was ist das! Jch will in der naͤchsten Nacht bei dem Kind wachen.“ Abends ging er auch in die Kinderstube, aber um Mitternacht erschien die Koͤnigin wieder und sprach: „Was macht mein Kind? Was macht mein Reh? Nun komm ich noch einmal und dann nimmermehr!“ und pflegte dann des Kindes wie gewoͤhnlich, eh sie wieder verschwand. Der Koͤnig getraute sich nicht, sie anzureden; aber die folgende Nacht wachte er wieder, da sprach sie abermals: „Was macht mein Kind? Was macht mein Reh? Nun komm ich noch diesmal und dann nimmermehr!“ Da konnte sich der Koͤnig nicht zuruͤckhalten, sprang zu ihr und sprach: „du kannst niemand anders seyn, als meine liebe Frau?“ Da antwortete sie: „Ja, ich bin deine liebe Frau!“ und hatte in dem Augenblick durch Gottes Gnade das Leben wieder erhalten, war frisch, roth und gesund. Darauf erzaͤhlte sie dem Koͤnig den Frevel, den die boͤse Hexe und ihre Tochter an ihr begangen hatten. Der Koͤnig ließ Beide vor Gericht fuͤhren und sie wurden verurtheilt; die Tochter ward in den Wald gefuͤhrt, wo sie die wilden Thiere zerrissen, wie sie sie erblickten; die Hexe aber ward ins Feuer gelegt und mußte jammervoll verbrennen. Und wie sie davon verzehrt war, verwandelte sich auch das Rehkaͤlbchen und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Bayerische Staatsbibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-06-15T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/129
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/129>, abgerufen am 24.11.2024.