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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.

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das verlorene Auge konnte sie ihr nicht wieder geben; damit aber der König nichts merken sollte, mußte sie sich auf die Seite legen, wo sie kein Aug' hatte. Am Abend, als der König heim kam und hörte, daß ihm ein Söhnlein geboren war, freute er sich herzlich und wollte ans Bett zu seiner lieben Frau gehen und wollte sehen, was sie machte. Da rief die Alte geschwind: "Bei Leibe, laßt die Vorhänge zu, die Königin darf noch nicht ins Licht sehen und muß Ruhe haben." Der König ging zuruck, und wußte nicht, daß eine falsche Königin im Bette lag.

Als es aber Mitternacht war und alles schlief, da sah die Kinderfrau, die in der Kinderstube neben der Wiege saß und allein noch wachte: wie die Thüre aufging und die rechte Königin herein trat; sie nahm das Kind aus der Wiege, legte es in ihren Arm und gab ihm zu trinken. Dann schüttelte sie ihm sein Kißchen und legte es wieder hinein und deckte es mit dem Deckbettchen zu. Sie vergaß aber auch das Rehchen nicht, ging in die Ecke, wo es lag, und streichelte ihm über den Rücken. Darauf ging sie ganz stillschweigend wieder zur Thüre hinaus und die Kinderfrau fragte am andern Morgen die Wächter, ob sie Jemand in der Nacht ins Schloß gehen gesehen; aber sie antworteten: "Nein, wir haben niemand gesehen!" So kam sie viele Nächte und sprach niemals ein Wort dabei; die Kinderfrau sah sie immer, aber sie getraute nicht Jemand etwas davon zu sagen.

Als nun so eine Zeit verflossen war, da hub die Königin in der Nacht an zu reden und sprach:


das verlorene Auge konnte sie ihr nicht wieder geben; damit aber der Koͤnig nichts merken sollte, mußte sie sich auf die Seite legen, wo sie kein Aug’ hatte. Am Abend, als der Koͤnig heim kam und hoͤrte, daß ihm ein Soͤhnlein geboren war, freute er sich herzlich und wollte ans Bett zu seiner lieben Frau gehen und wollte sehen, was sie machte. Da rief die Alte geschwind: „Bei Leibe, laßt die Vorhaͤnge zu, die Koͤnigin darf noch nicht ins Licht sehen und muß Ruhe haben.“ Der Koͤnig ging zuruck, und wußte nicht, daß eine falsche Koͤnigin im Bette lag.

Als es aber Mitternacht war und alles schlief, da sah die Kinderfrau, die in der Kinderstube neben der Wiege saß und allein noch wachte: wie die Thuͤre aufging und die rechte Koͤnigin herein trat; sie nahm das Kind aus der Wiege, legte es in ihren Arm und gab ihm zu trinken. Dann schuͤttelte sie ihm sein Kißchen und legte es wieder hinein und deckte es mit dem Deckbettchen zu. Sie vergaß aber auch das Rehchen nicht, ging in die Ecke, wo es lag, und streichelte ihm uͤber den Ruͤcken. Darauf ging sie ganz stillschweigend wieder zur Thuͤre hinaus und die Kinderfrau fragte am andern Morgen die Waͤchter, ob sie Jemand in der Nacht ins Schloß gehen gesehen; aber sie antworteten: „Nein, wir haben niemand gesehen!“ So kam sie viele Naͤchte und sprach niemals ein Wort dabei; die Kinderfrau sah sie immer, aber sie getraute nicht Jemand etwas davon zu sagen.

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[64/0128] das verlorene Auge konnte sie ihr nicht wieder geben; damit aber der Koͤnig nichts merken sollte, mußte sie sich auf die Seite legen, wo sie kein Aug’ hatte. Am Abend, als der Koͤnig heim kam und hoͤrte, daß ihm ein Soͤhnlein geboren war, freute er sich herzlich und wollte ans Bett zu seiner lieben Frau gehen und wollte sehen, was sie machte. Da rief die Alte geschwind: „Bei Leibe, laßt die Vorhaͤnge zu, die Koͤnigin darf noch nicht ins Licht sehen und muß Ruhe haben.“ Der Koͤnig ging zuruck, und wußte nicht, daß eine falsche Koͤnigin im Bette lag. Als es aber Mitternacht war und alles schlief, da sah die Kinderfrau, die in der Kinderstube neben der Wiege saß und allein noch wachte: wie die Thuͤre aufging und die rechte Koͤnigin herein trat; sie nahm das Kind aus der Wiege, legte es in ihren Arm und gab ihm zu trinken. Dann schuͤttelte sie ihm sein Kißchen und legte es wieder hinein und deckte es mit dem Deckbettchen zu. Sie vergaß aber auch das Rehchen nicht, ging in die Ecke, wo es lag, und streichelte ihm uͤber den Ruͤcken. Darauf ging sie ganz stillschweigend wieder zur Thuͤre hinaus und die Kinderfrau fragte am andern Morgen die Waͤchter, ob sie Jemand in der Nacht ins Schloß gehen gesehen; aber sie antworteten: „Nein, wir haben niemand gesehen!“ So kam sie viele Naͤchte und sprach niemals ein Wort dabei; die Kinderfrau sah sie immer, aber sie getraute nicht Jemand etwas davon zu sagen. Als nun so eine Zeit verflossen war, da hub die Koͤnigin in der Nacht an zu reden und sprach:

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Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/128>, abgerufen am 24.11.2024.