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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.

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Ach, Brüderchen, ich bitt dich, trink' nicht, sonst wirst du ein Wolf und frissest mich." Das Brüderchen trank nicht und sprach: "Jch will warten, bis wir zur nächsten Quelle kommen, aber dann muß ich trinken, du magst sagen, was du willst; mein Durst ist gar zu groß." Und als sie zum dritten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterlein, wie es im Rauschen sprach: "Wer aus mir trinkt, wird ein Reh! wer aus mir trinkt, wird ein Reh!" Das Schwesterchen sprach: "Ach, Brüderchen, ich bitt' dich, trink' nicht, sonst wirst du ein Reh und läufst mir fort." Aber das Brüderchen hatte sich gleich bei dem Brünnlein nieder geknieet, hinab gebeugt und von dem Wasser getrunken und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkälbchen.

Nun weinte das Schwesterchen über das arme, verwünschte Brüderchen und das Rehchen weinte auch und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Mädchen endlich: "Sey still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen." Dann band es sein goldenes Strumpfband ab und that es dem Rehchen um den Hals und rupfte Binsen und flocht ein weiches Seil daraus. Daran band es das Thierchen und führte es weiter und ging immer tiefer in den Wald hinein. Und als sie lang, lang gegangen waren, kamen sie endlich in ein kleines Haus und das Mädchen schaute hinein und weil es leer war, dachte es, hier können wir bleiben und wohnen. Da suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen Lager und jeden Morgen ging es aus und sammelte sich Wurzeln, Beeren und Nüsse und für das Rehchen brachte es

Ach, Bruͤderchen, ich bitt dich, trink’ nicht, sonst wirst du ein Wolf und frissest mich.“ Das Bruͤderchen trank nicht und sprach: „Jch will warten, bis wir zur naͤchsten Quelle kommen, aber dann muß ich trinken, du magst sagen, was du willst; mein Durst ist gar zu groß.“ Und als sie zum dritten Bruͤnnlein kamen, hoͤrte das Schwesterlein, wie es im Rauschen sprach: „Wer aus mir trinkt, wird ein Reh! wer aus mir trinkt, wird ein Reh!“ Das Schwesterchen sprach: „Ach, Bruͤderchen, ich bitt’ dich, trink’ nicht, sonst wirst du ein Reh und laͤufst mir fort.“ Aber das Bruͤderchen hatte sich gleich bei dem Bruͤnnlein nieder geknieet, hinab gebeugt und von dem Wasser getrunken und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkaͤlbchen.

Nun weinte das Schwesterchen uͤber das arme, verwuͤnschte Bruͤderchen und das Rehchen weinte auch und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Maͤdchen endlich: „Sey still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.“ Dann band es sein goldenes Strumpfband ab und that es dem Rehchen um den Hals und rupfte Binsen und flocht ein weiches Seil daraus. Daran band es das Thierchen und fuͤhrte es weiter und ging immer tiefer in den Wald hinein. Und als sie lang, lang gegangen waren, kamen sie endlich in ein kleines Haus und das Maͤdchen schaute hinein und weil es leer war, dachte es, hier koͤnnen wir bleiben und wohnen. Da suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen Lager und jeden Morgen ging es aus und sammelte sich Wurzeln, Beeren und Nuͤsse und fuͤr das Rehchen brachte es

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[59/0123] Ach, Bruͤderchen, ich bitt dich, trink’ nicht, sonst wirst du ein Wolf und frissest mich.“ Das Bruͤderchen trank nicht und sprach: „Jch will warten, bis wir zur naͤchsten Quelle kommen, aber dann muß ich trinken, du magst sagen, was du willst; mein Durst ist gar zu groß.“ Und als sie zum dritten Bruͤnnlein kamen, hoͤrte das Schwesterlein, wie es im Rauschen sprach: „Wer aus mir trinkt, wird ein Reh! wer aus mir trinkt, wird ein Reh!“ Das Schwesterchen sprach: „Ach, Bruͤderchen, ich bitt’ dich, trink’ nicht, sonst wirst du ein Reh und laͤufst mir fort.“ Aber das Bruͤderchen hatte sich gleich bei dem Bruͤnnlein nieder geknieet, hinab gebeugt und von dem Wasser getrunken und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkaͤlbchen. Nun weinte das Schwesterchen uͤber das arme, verwuͤnschte Bruͤderchen und das Rehchen weinte auch und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Maͤdchen endlich: „Sey still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.“ Dann band es sein goldenes Strumpfband ab und that es dem Rehchen um den Hals und rupfte Binsen und flocht ein weiches Seil daraus. Daran band es das Thierchen und fuͤhrte es weiter und ging immer tiefer in den Wald hinein. Und als sie lang, lang gegangen waren, kamen sie endlich in ein kleines Haus und das Maͤdchen schaute hinein und weil es leer war, dachte es, hier koͤnnen wir bleiben und wohnen. Da suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen Lager und jeden Morgen ging es aus und sammelte sich Wurzeln, Beeren und Nuͤsse und fuͤr das Rehchen brachte es

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Anmerkungen zur Transkription:

Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1819/123>, abgerufen am 23.11.2024.