zwölf Jahre stumm sitzen, um seine Brüder zu erlösen. Es geschah aber, daß der König auf einer Jagd durch den Wald ritt, und als er an dem Baum vorbei kam, stand sein Hund still und bellte. Der König hielt nun, sah hin- auf und war ganz verwundert über die Schön- heit der Prinzessin. Er rief ihr zu, ob sie sei- ne Gemahlin werden wollte. Sie schwieg aber still und nickte nur ein wenig mit dem Kopf. Da stieg der König selber hinauf und hob sie herunter, setzte sie vor sich auf sein Pferd und brachte sie heim in sein Schloß, wo die Hochzeit prächtig gehalten ward. Die Prin- zessin sprach aber niemals ein Wort und der König glaubte sie sey stumm. Doch hätten sie vergnügt mit einander gelebt, wenn nicht die Mutter des Königs gewesen wäre, die fing an die Königin bei ihrem Sohn zu verläum- den: "es ist ein gemeines Bettelmädchen, das du aus der Fremde mitgebracht hast, die hin- ter deinem Rücken die schändlichsten Dinge treibt." Weil die Königin nun sich nicht ver- theidigen konnte, ließ sich der König verführen, und glaubte ihr endlich und verurtheilte sie zum Tod. Da ward ein großes Feuer angemacht im Hof, darin sollte sie verbrannt werden. Schon stand sie in den Flammen und die spiel- ten an ihrem Kleide; da war eben die letzte Minute von den zwölf Jahren verflossen, man
zwoͤlf Jahre ſtumm ſitzen, um ſeine Bruͤder zu erloͤſen. Es geſchah aber, daß der Koͤnig auf einer Jagd durch den Wald ritt, und als er an dem Baum vorbei kam, ſtand ſein Hund ſtill und bellte. Der Koͤnig hielt nun, ſah hin- auf und war ganz verwundert uͤber die Schoͤn- heit der Prinzeſſin. Er rief ihr zu, ob ſie ſei- ne Gemahlin werden wollte. Sie ſchwieg aber ſtill und nickte nur ein wenig mit dem Kopf. Da ſtieg der Koͤnig ſelber hinauf und hob ſie herunter, ſetzte ſie vor ſich auf ſein Pferd und brachte ſie heim in ſein Schloß, wo die Hochzeit praͤchtig gehalten ward. Die Prin- zeſſin ſprach aber niemals ein Wort und der Koͤnig glaubte ſie ſey ſtumm. Doch haͤtten ſie vergnuͤgt mit einander gelebt, wenn nicht die Mutter des Koͤnigs geweſen waͤre, die fing an die Koͤnigin bei ihrem Sohn zu verlaͤum- den: „es iſt ein gemeines Bettelmaͤdchen, das du aus der Fremde mitgebracht haſt, die hin- ter deinem Ruͤcken die ſchaͤndlichſten Dinge treibt.“ Weil die Koͤnigin nun ſich nicht ver- theidigen konnte, ließ ſich der Koͤnig verfuͤhren, und glaubte ihr endlich und verurtheilte ſie zum Tod. Da ward ein großes Feuer angemacht im Hof, darin ſollte ſie verbrannt werden. Schon ſtand ſie in den Flammen und die ſpiel- ten an ihrem Kleide; da war eben die letzte Minute von den zwoͤlf Jahren verfloſſen, man
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zwoͤlf Jahre ſtumm ſitzen, um ſeine Bruͤder zu
erloͤſen. Es geſchah aber, daß der Koͤnig auf
einer Jagd durch den Wald ritt, und als er
an dem Baum vorbei kam, ſtand ſein Hund
ſtill und bellte. Der Koͤnig hielt nun, ſah hin-
auf und war ganz verwundert uͤber die Schoͤn-
heit der Prinzeſſin. Er rief ihr zu, ob ſie ſei-
ne Gemahlin werden wollte. Sie ſchwieg
aber ſtill und nickte nur ein wenig mit dem
Kopf. Da ſtieg der Koͤnig ſelber hinauf und
hob ſie herunter, ſetzte ſie vor ſich auf ſein
Pferd und brachte ſie heim in ſein Schloß, wo
die Hochzeit praͤchtig gehalten ward. Die Prin-
zeſſin ſprach aber niemals ein Wort und der
Koͤnig glaubte ſie ſey ſtumm. Doch haͤtten ſie
vergnuͤgt mit einander gelebt, wenn nicht die
Mutter des Koͤnigs geweſen waͤre, die fing
an die Koͤnigin bei ihrem Sohn zu verlaͤum-
den: „es iſt ein gemeines Bettelmaͤdchen, das
du aus der Fremde mitgebracht haſt, die hin-
ter deinem Ruͤcken die ſchaͤndlichſten Dinge
treibt.“ Weil die Koͤnigin nun ſich nicht ver-
theidigen konnte, ließ ſich der Koͤnig verfuͤhren,
und glaubte ihr endlich und verurtheilte ſie zum
Tod. Da ward ein großes Feuer angemacht
im Hof, darin ſollte ſie verbrannt werden.
Schon ſtand ſie in den Flammen und die ſpiel-
ten an ihrem Kleide; da war eben die letzte
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/63>, abgerufen am 24.11.2024.
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