de giebt folgende Fragmente: "die Spinnmädchen erzählen von einem jungen Schneidersgesel- len, der auf der Wanderschaft immer weiter und weiter ging, und nach mancherlei Abenteuern mit Greifen, verwünschten Prinzessinnen, zaubernden Zwergen und grimmigen bergeschaufelnden Riesen zuletzt das Ende der Welt erreichte. Er fand sie nicht, wie die gewöhnliche Meinung ist, mit Bret- tern vernagelt, durch deren Fugen man die heil. Engel mit Wetterbrauen, Blitzschmieden, Verar- beitung des alten Sonnenscheins zu neuem Mond- lichte und des verbrauchten Mond- und Sternen- scheins zu Nordlichtern, Regenbogen und hellen Dämmerungen der Sommernächte beschäftigt sieht. Nein, das blaue Himmelsgewölbe senkte sich auf die Fläche des Erdbodens wie ein Backofen. Der Mond wollte eben am Rande der hohlen Decke aufgehn, und der Schneider ließ sich gelüsten, ihn mit dem Zeigefinger zu berühren. Aber es zischte, und Haut und Fleisch war bis an den Na- gel hinweggesengt." -- Ein Theil der Fabel erin- nert auch an das Altdän. Lied von Verner Ravn, der von der Stiefmutter verflucht war, und dem die Schwester ihr kleines Kind giebt, durch dessen Auge- und Herzblut er seine menschliche Gestalt wieder erlangte.
Hieran schließen wir noch eine märchenhafte Erzählung vom Mond an, die in Menanders Frag- menten oder in Plutarchs kleinen Abhandlungen erhalten ist, wozu man gleichfalls eine äsopische Fabel (edid Furia 396.) vergleiche. -- Der Mond sprach einmal zu seiner Mutter: "die Nächte sind so kalt, ich friere, mach mir doch ein warmes Kleid!" Sie nahm das Maaß, und er lief fort, wie er aber wieder kam, war er so groß gewor- den, daß das Röcklein nirgends passen wollte. Da fing die Mutter an, und trennte die Nähte und ließ aus, allein die Zeit währte dem Mond zu lange, und er ging wieder fort seines Weges. Emsig nähte die Mutter am Kleid, und saß man- che Nacht auf beim Sternenschein. Der Mond kam zurück, und hatte viel gelaufen, und hatte
de giebt folgende Fragmente: „die Spinnmaͤdchen erzaͤhlen von einem jungen Schneidersgeſel- len, der auf der Wanderſchaft immer weiter und weiter ging, und nach mancherlei Abenteuern mit Greifen, verwuͤnſchten Prinzeſſinnen, zaubernden Zwergen und grimmigen bergeſchaufelnden Rieſen zuletzt das Ende der Welt erreichte. Er fand ſie nicht, wie die gewoͤhnliche Meinung iſt, mit Bret- tern vernagelt, durch deren Fugen man die heil. Engel mit Wetterbrauen, Blitzſchmieden, Verar- beitung des alten Sonnenſcheins zu neuem Mond- lichte und des verbrauchten Mond- und Sternen- ſcheins zu Nordlichtern, Regenbogen und hellen Daͤmmerungen der Sommernaͤchte beſchaͤftigt ſieht. Nein, das blaue Himmelsgewoͤlbe ſenkte ſich auf die Flaͤche des Erdbodens wie ein Backofen. Der Mond wollte eben am Rande der hohlen Decke aufgehn, und der Schneider ließ ſich geluͤſten, ihn mit dem Zeigefinger zu beruͤhren. Aber es ziſchte, und Haut und Fleiſch war bis an den Na- gel hinweggeſengt.“ — Ein Theil der Fabel erin- nert auch an das Altdaͤn. Lied von Verner Ravn, der von der Stiefmutter verflucht war, und dem die Schweſter ihr kleines Kind giebt, durch deſſen Auge- und Herzblut er ſeine menſchliche Geſtalt wieder erlangte.
Hieran ſchließen wir noch eine maͤrchenhafte Erzaͤhlung vom Mond an, die in Menanders Frag- menten oder in Plutarchs kleinen Abhandlungen erhalten iſt, wozu man gleichfalls eine aͤſopiſche Fabel (edid Furia 396.) vergleiche. — Der Mond ſprach einmal zu ſeiner Mutter: „die Naͤchte ſind ſo kalt, ich friere, mach mir doch ein warmes Kleid!“ Sie nahm das Maaß, und er lief fort, wie er aber wieder kam, war er ſo groß gewor- den, daß das Roͤcklein nirgends paſſen wollte. Da fing die Mutter an, und trennte die Naͤhte und ließ aus, allein die Zeit waͤhrte dem Mond zu lange, und er ging wieder fort ſeines Weges. Emſig naͤhte die Mutter am Kleid, und ſaß man- che Nacht auf beim Sternenſchein. Der Mond kam zuruͤck, und hatte viel gelaufen, und hatte
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[XXI/0443]
de giebt folgende Fragmente: „die Spinnmaͤdchen
erzaͤhlen von einem jungen Schneidersgeſel-
len, der auf der Wanderſchaft immer weiter und
weiter ging, und nach mancherlei Abenteuern mit
Greifen, verwuͤnſchten Prinzeſſinnen, zaubernden
Zwergen und grimmigen bergeſchaufelnden Rieſen
zuletzt das Ende der Welt erreichte. Er fand ſie
nicht, wie die gewoͤhnliche Meinung iſt, mit Bret-
tern vernagelt, durch deren Fugen man die heil.
Engel mit Wetterbrauen, Blitzſchmieden, Verar-
beitung des alten Sonnenſcheins zu neuem Mond-
lichte und des verbrauchten Mond- und Sternen-
ſcheins zu Nordlichtern, Regenbogen und hellen
Daͤmmerungen der Sommernaͤchte beſchaͤftigt ſieht.
Nein, das blaue Himmelsgewoͤlbe ſenkte ſich auf
die Flaͤche des Erdbodens wie ein Backofen. Der
Mond wollte eben am Rande der hohlen Decke
aufgehn, und der Schneider ließ ſich geluͤſten, ihn
mit dem Zeigefinger zu beruͤhren. Aber es
ziſchte, und Haut und Fleiſch war bis an den Na-
gel hinweggeſengt.“ — Ein Theil der Fabel erin-
nert auch an das Altdaͤn. Lied von Verner Ravn,
der von der Stiefmutter verflucht war, und dem
die Schweſter ihr kleines Kind giebt, durch deſſen
Auge- und Herzblut er ſeine menſchliche Geſtalt
wieder erlangte.
Hieran ſchließen wir noch eine maͤrchenhafte
Erzaͤhlung vom Mond an, die in Menanders Frag-
menten oder in Plutarchs kleinen Abhandlungen
erhalten iſt, wozu man gleichfalls eine aͤſopiſche
Fabel (edid Furia 396.) vergleiche. — Der Mond
ſprach einmal zu ſeiner Mutter: „die Naͤchte ſind
ſo kalt, ich friere, mach mir doch ein warmes
Kleid!“ Sie nahm das Maaß, und er lief fort,
wie er aber wieder kam, war er ſo groß gewor-
den, daß das Roͤcklein nirgends paſſen wollte. Da
fing die Mutter an, und trennte die Naͤhte und
ließ aus, allein die Zeit waͤhrte dem Mond zu
lange, und er ging wieder fort ſeines Weges.
Emſig naͤhte die Mutter am Kleid, und ſaß man-
che Nacht auf beim Sternenſchein. Der Mond
kam zuruͤck, und hatte viel gelaufen, und hatte
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. XXI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/443>, abgerufen am 23.11.2024.
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