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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812.

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still und sparsam und wenn er daran dachte,
wie es seinen drei lieben Töchtern bei den wil-
den Thieren ergehen mögte, die sie vielleicht
schon aufgefressen hätten, verging ihm alle Lust.

Die Königin aber wollt sich gar nicht trö-
sten lassen und weinte mehr Thränen um ihre
Tochter, als der Wallfisch Perlen dafür gege-
ben hatte. Endlich wards ein wenig stiller, und
nach einiger Zeit ward sie wieder ganz vergnügt,
denn sie brachte einen schönen Knaben zur Welt
und weil Gott das Kind so unerwartet geschenkt
hatte, ward es Reinald, das Wunderkind, ge-
nannt. Der Knabe ward groß und stark, und
die Königin erzählte ihm oft von seinen drei
Schwestern, die in dem Zauberwald von drei
Thieren gefangen gehalten würden. Als er
sechszehn Jahr alt war verlangte er von dem
König Rüstung und Schwert, und als er es nun
erhalten, wollte er auf Abentheuer ausgehen, ge-
segnete seine Eltern, und zog fort.

Er zog aber geradezu nach dem Zauberwald
und hatte nichts anders im Sinn als seine
Schwestern zu suchen. Anfangs irrte er lange
in dem großen Walde herum, ohne einem Men-
schen oder einem Thiere zu begegnen. Nach
drei Tagen aber sah er vor einer Höhle eine
junge Frau sitzen und mit einem jungen Bären
spielen: einen andern, ganz jungen, hatte sie
auf ihrem Schooß liegen: Reinald dachte, das

ſtill und ſparſam und wenn er daran dachte,
wie es ſeinen drei lieben Toͤchtern bei den wil-
den Thieren ergehen moͤgte, die ſie vielleicht
ſchon aufgefreſſen haͤtten, verging ihm alle Luſt.

Die Koͤnigin aber wollt ſich gar nicht troͤ-
ſten laſſen und weinte mehr Thraͤnen um ihre
Tochter, als der Wallfiſch Perlen dafuͤr gege-
ben hatte. Endlich wards ein wenig ſtiller, und
nach einiger Zeit ward ſie wieder ganz vergnuͤgt,
denn ſie brachte einen ſchoͤnen Knaben zur Welt
und weil Gott das Kind ſo unerwartet geſchenkt
hatte, ward es Reinald, das Wunderkind, ge-
nannt. Der Knabe ward groß und ſtark, und
die Koͤnigin erzaͤhlte ihm oft von ſeinen drei
Schweſtern, die in dem Zauberwald von drei
Thieren gefangen gehalten wuͤrden. Als er
ſechszehn Jahr alt war verlangte er von dem
Koͤnig Ruͤſtung und Schwert, und als er es nun
erhalten, wollte er auf Abentheuer ausgehen, ge-
ſegnete ſeine Eltern, und zog fort.

Er zog aber geradezu nach dem Zauberwald
und hatte nichts anders im Sinn als ſeine
Schweſtern zu ſuchen. Anfangs irrte er lange
in dem großen Walde herum, ohne einem Men-
ſchen oder einem Thiere zu begegnen. Nach
drei Tagen aber ſah er vor einer Hoͤhle eine
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[372/0406] ſtill und ſparſam und wenn er daran dachte, wie es ſeinen drei lieben Toͤchtern bei den wil- den Thieren ergehen moͤgte, die ſie vielleicht ſchon aufgefreſſen haͤtten, verging ihm alle Luſt. Die Koͤnigin aber wollt ſich gar nicht troͤ- ſten laſſen und weinte mehr Thraͤnen um ihre Tochter, als der Wallfiſch Perlen dafuͤr gege- ben hatte. Endlich wards ein wenig ſtiller, und nach einiger Zeit ward ſie wieder ganz vergnuͤgt, denn ſie brachte einen ſchoͤnen Knaben zur Welt und weil Gott das Kind ſo unerwartet geſchenkt hatte, ward es Reinald, das Wunderkind, ge- nannt. Der Knabe ward groß und ſtark, und die Koͤnigin erzaͤhlte ihm oft von ſeinen drei Schweſtern, die in dem Zauberwald von drei Thieren gefangen gehalten wuͤrden. Als er ſechszehn Jahr alt war verlangte er von dem Koͤnig Ruͤſtung und Schwert, und als er es nun erhalten, wollte er auf Abentheuer ausgehen, ge- ſegnete ſeine Eltern, und zog fort. Er zog aber geradezu nach dem Zauberwald und hatte nichts anders im Sinn als ſeine Schweſtern zu ſuchen. Anfangs irrte er lange in dem großen Walde herum, ohne einem Men- ſchen oder einem Thiere zu begegnen. Nach drei Tagen aber ſah er vor einer Hoͤhle eine junge Frau ſitzen und mit einem jungen Baͤren ſpielen: einen andern, ganz jungen, hatte ſie auf ihrem Schooß liegen: Reinald dachte, das

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/406>, abgerufen am 24.11.2024.