In dem Augenblick kam der König mit dem ganzen Hofstaat zurück, und da fing alles an einzuschlafen, die Pferde in den Ställen, die Tauben auf dem Dach, die Hunde im Hof, die Fliegen an den Wänden, ja das Feuer, das auf dem Heerde flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln, und der Koch ließ den Küchenjungen los, den er an den Haaren ziehen wollte, und die Magd ließ das Huhn fallen, das sie rupfte und schlief, und um das ganze Schloß zog sich eine Dorn- hecke hoch und immer höher, so daß man gar nichts mehr davon sah.
Prinzen, die von dem schönen Dornrös- chen gehört hatten, kamen und wollten es be- freien, aber sie konnten durch die Hecke nicht hindurch dringen, es war als hielten sich die Dornen fest wie an Händen zusammen, und sie blieben darin hängen und kamen jämmerlich um. So währte das lange, lange Jahre: da zog einmal ein Königssohn durch das Land, dem erzählte ein alter Mann davon, man glau- be, daß hinter der Dornhecke ein Schloß stehe, und eine wunderschöne Prinzessin schlafe darin mit ihrem ganzen Hofstaat; sein Großvater habe ihm gesagt, daß sonst viele Prinzen ge- kommen wären und hätten hindurchdringen wol- len, sie wären aber in den Dornen hängen ge- blieben und todtgestochen worden. "Das soll
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In dem Augenblick kam der Koͤnig mit dem ganzen Hofſtaat zuruͤck, und da fing alles an einzuſchlafen, die Pferde in den Staͤllen, die Tauben auf dem Dach, die Hunde im Hof, die Fliegen an den Waͤnden, ja das Feuer, das auf dem Heerde flackerte, ward ſtill und ſchlief ein, und der Braten hoͤrte auf zu brutzeln, und der Koch ließ den Kuͤchenjungen los, den er an den Haaren ziehen wollte, und die Magd ließ das Huhn fallen, das ſie rupfte und ſchlief, und um das ganze Schloß zog ſich eine Dorn- hecke hoch und immer hoͤher, ſo daß man gar nichts mehr davon ſah.
Prinzen, die von dem ſchoͤnen Dornroͤs- chen gehoͤrt hatten, kamen und wollten es be- freien, aber ſie konnten durch die Hecke nicht hindurch dringen, es war als hielten ſich die Dornen feſt wie an Haͤnden zuſammen, und ſie blieben darin haͤngen und kamen jaͤmmerlich um. So waͤhrte das lange, lange Jahre: da zog einmal ein Koͤnigsſohn durch das Land, dem erzaͤhlte ein alter Mann davon, man glau- be, daß hinter der Dornhecke ein Schloß ſtehe, und eine wunderſchoͤne Prinzeſſin ſchlafe darin mit ihrem ganzen Hofſtaat; ſein Großvater habe ihm geſagt, daß ſonſt viele Prinzen ge- kommen waͤren und haͤtten hindurchdringen wol- len, ſie waͤren aber in den Dornen haͤngen ge- blieben und todtgeſtochen worden. „Das ſoll
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In dem Augenblick kam der Koͤnig mit dem
ganzen Hofſtaat zuruͤck, und da fing alles an
einzuſchlafen, die Pferde in den Staͤllen, die
Tauben auf dem Dach, die Hunde im Hof, die
Fliegen an den Waͤnden, ja das Feuer, das
auf dem Heerde flackerte, ward ſtill und ſchlief
ein, und der Braten hoͤrte auf zu brutzeln, und
der Koch ließ den Kuͤchenjungen los, den er an
den Haaren ziehen wollte, und die Magd ließ
das Huhn fallen, das ſie rupfte und ſchlief,
und um das ganze Schloß zog ſich eine Dorn-
hecke hoch und immer hoͤher, ſo daß man gar
nichts mehr davon ſah.
Prinzen, die von dem ſchoͤnen Dornroͤs-
chen gehoͤrt hatten, kamen und wollten es be-
freien, aber ſie konnten durch die Hecke nicht
hindurch dringen, es war als hielten ſich die
Dornen feſt wie an Haͤnden zuſammen, und ſie
blieben darin haͤngen und kamen jaͤmmerlich
um. So waͤhrte das lange, lange Jahre: da
zog einmal ein Koͤnigsſohn durch das Land,
dem erzaͤhlte ein alter Mann davon, man glau-
be, daß hinter der Dornhecke ein Schloß ſtehe,
und eine wunderſchoͤne Prinzeſſin ſchlafe darin
mit ihrem ganzen Hofſtaat; ſein Großvater
habe ihm geſagt, daß ſonſt viele Prinzen ge-
kommen waͤren und haͤtten hindurchdringen wol-
len, ſie waͤren aber in den Dornen haͤngen ge-
blieben und todtgeſtochen worden. „Das ſoll
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/261>, abgerufen am 22.11.2024.
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