Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Was willst du? rief sie, und eine dunkle Röthe überflog sie. Der Schlaf hatte ihr das Haar in Unordnung gebracht, es hing ihr auf der einen Seite lang auf die Schulter herab. Ihre Augen schienen dunkler, ihre Lippen fester, aber schön war sie wie niemals. Du hast mir den Brief nehmen wollen? fragte sie drohend. -- Ja, das wollte ich, entgegnete er in milderem Tone als gewöhnlich. Es schien mir dies eine unschuldige Art, zu erfahren, was dich krank machte. -- Ich war nicht krank, rief sie; du hast es mich schon einmal gefragt und ich sagte nicht die Unwahrheit, als ich nein sagte! -- Was war das für ein Ton, in dem sie redete? -- Aber der Brief ist Schuld, daß du so blaß umhergingst! erwiderte er heftiger; und du hattest mir versprochen, keine Briefe zu lesen, ohne daß ich es wüßte, Briefe -- du weißt von wem, Emma! Und daher kommt der! Ja, daher kommt der! und ich habe ihn nicht gelesen! Denkst du, ich wäre so schwach, daß ich hinter deinem Rücken bräche, was ich dir offen versprach? -- Sie warf den Brief auf den Tisch. Er war versiegelt und unerbrochen. Albert griff nach ihm, aber sie hielt ihn schon wieder in ihren Händen. Nein, du rührst ihn nicht an! -- Und er kommt wirklich von ihm! -- Ja, und ich bin ihm begegnet. Wir haben nichts Unrechtes gesprochen, aber den Brief hat er mir gegeben und ich habe ihn nicht gelesen, aber ich trage ihn mit mir; Keiner soll ihn berühren Was willst du? rief sie, und eine dunkle Röthe überflog sie. Der Schlaf hatte ihr das Haar in Unordnung gebracht, es hing ihr auf der einen Seite lang auf die Schulter herab. Ihre Augen schienen dunkler, ihre Lippen fester, aber schön war sie wie niemals. Du hast mir den Brief nehmen wollen? fragte sie drohend. — Ja, das wollte ich, entgegnete er in milderem Tone als gewöhnlich. Es schien mir dies eine unschuldige Art, zu erfahren, was dich krank machte. — Ich war nicht krank, rief sie; du hast es mich schon einmal gefragt und ich sagte nicht die Unwahrheit, als ich nein sagte! — Was war das für ein Ton, in dem sie redete? — Aber der Brief ist Schuld, daß du so blaß umhergingst! erwiderte er heftiger; und du hattest mir versprochen, keine Briefe zu lesen, ohne daß ich es wüßte, Briefe — du weißt von wem, Emma! Und daher kommt der! Ja, daher kommt der! und ich habe ihn nicht gelesen! Denkst du, ich wäre so schwach, daß ich hinter deinem Rücken bräche, was ich dir offen versprach? — Sie warf den Brief auf den Tisch. Er war versiegelt und unerbrochen. Albert griff nach ihm, aber sie hielt ihn schon wieder in ihren Händen. Nein, du rührst ihn nicht an! — Und er kommt wirklich von ihm! — Ja, und ich bin ihm begegnet. Wir haben nichts Unrechtes gesprochen, aber den Brief hat er mir gegeben und ich habe ihn nicht gelesen, aber ich trage ihn mit mir; Keiner soll ihn berühren <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <pb facs="#f0058"/> <p>Was willst du? rief sie, und eine dunkle Röthe überflog sie. Der Schlaf hatte ihr das Haar in Unordnung gebracht, es hing ihr auf der einen Seite lang auf die Schulter herab. Ihre Augen schienen dunkler, ihre Lippen fester, aber schön war sie wie niemals. Du hast mir den Brief nehmen wollen? fragte sie drohend. — Ja, das wollte ich, entgegnete er in milderem Tone als gewöhnlich. Es schien mir dies eine unschuldige Art, zu erfahren, was dich krank machte. — Ich war nicht krank, rief sie; du hast es mich schon einmal gefragt und ich sagte nicht die Unwahrheit, als ich nein sagte! — Was war das für ein Ton, in dem sie redete? — Aber der Brief ist Schuld, daß du so blaß umhergingst! erwiderte er heftiger; und du hattest mir versprochen, keine Briefe zu lesen, ohne daß ich es wüßte, Briefe — du weißt von wem, Emma! Und <hi rendition="#g">daher</hi> kommt der!</p><lb/> <p>Ja, <hi rendition="#g">daher</hi> kommt der! und ich habe ihn <hi rendition="#g">nicht</hi> gelesen! Denkst du, ich wäre so schwach, daß ich hinter deinem Rücken bräche, was ich dir offen versprach? — Sie warf den Brief auf den Tisch. Er war versiegelt und unerbrochen. Albert griff nach ihm, aber sie hielt ihn schon wieder in ihren Händen.</p><lb/> <p>Nein, du rührst ihn nicht an! — Und er kommt wirklich von ihm! — Ja, und ich bin ihm begegnet. Wir haben nichts Unrechtes gesprochen, aber den Brief hat er mir gegeben und ich habe ihn nicht gelesen, aber ich trage ihn mit mir; Keiner soll ihn berühren<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0058]
Was willst du? rief sie, und eine dunkle Röthe überflog sie. Der Schlaf hatte ihr das Haar in Unordnung gebracht, es hing ihr auf der einen Seite lang auf die Schulter herab. Ihre Augen schienen dunkler, ihre Lippen fester, aber schön war sie wie niemals. Du hast mir den Brief nehmen wollen? fragte sie drohend. — Ja, das wollte ich, entgegnete er in milderem Tone als gewöhnlich. Es schien mir dies eine unschuldige Art, zu erfahren, was dich krank machte. — Ich war nicht krank, rief sie; du hast es mich schon einmal gefragt und ich sagte nicht die Unwahrheit, als ich nein sagte! — Was war das für ein Ton, in dem sie redete? — Aber der Brief ist Schuld, daß du so blaß umhergingst! erwiderte er heftiger; und du hattest mir versprochen, keine Briefe zu lesen, ohne daß ich es wüßte, Briefe — du weißt von wem, Emma! Und daher kommt der!
Ja, daher kommt der! und ich habe ihn nicht gelesen! Denkst du, ich wäre so schwach, daß ich hinter deinem Rücken bräche, was ich dir offen versprach? — Sie warf den Brief auf den Tisch. Er war versiegelt und unerbrochen. Albert griff nach ihm, aber sie hielt ihn schon wieder in ihren Händen.
Nein, du rührst ihn nicht an! — Und er kommt wirklich von ihm! — Ja, und ich bin ihm begegnet. Wir haben nichts Unrechtes gesprochen, aber den Brief hat er mir gegeben und ich habe ihn nicht gelesen, aber ich trage ihn mit mir; Keiner soll ihn berühren
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