Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Sie war vertrauungsvoll gewesen, hatte Alles eingesehen, was er ihr klar und verständlich auseinander setzte; eingesehen, daß sie Emil nicht liebe, daß dergleichen oft bei jungen Männern vorkäme -- man dürfe sie freilich bemitleiden, aber es ginge vorüber -- eingesehen, daß sie ihm nicht wieder begegnen dürfe, daß er sich bald beruhigen und seiner Zeit mit einer andern Frau glücklich werden würde. Gewiß, das war Albert's Meinung, und war sie es vorher nicht ganz gewesen, so war sie es doch nun fest und unumstößlich, nachdem Emma ihn so treu angehört und so unschuldig geglaubt hatte. Er war zu stolz, um zu lügen, und das Kind? Mit acht Jahren war es den Sperlingen mit einer Hand voll Salz nachgelaufen, weil man ihm gesagt, es könne sie fangen, wenn sie sich's auf den Schwanz streuen ließen; warum sollte es mit siebzehn nicht glauben, daß ein junger Mann, der so gut und so schön war, nicht einst glücklich werden sollte? Und da Albert es so sicher aussprach! Wie sollte es denken, sein eigenes unschuldiges Persönchen sei irgend Jemand zu seinem Glücke nothwendig, es könnte Jemand sterben vor Sehnsucht nach ihm, oder nur Thränen vergießen? Wunderte es sich doch immer wieder heimlich über Albert's Herablassung und konnte nicht recht begreifen, warum er alle Tage so lange Gespräche mit ihm führte. Man war in der Stadt; die Koffer standen gepackt; am nächsten Morgen sollte die Reise angetreten Sie war vertrauungsvoll gewesen, hatte Alles eingesehen, was er ihr klar und verständlich auseinander setzte; eingesehen, daß sie Emil nicht liebe, daß dergleichen oft bei jungen Männern vorkäme — man dürfe sie freilich bemitleiden, aber es ginge vorüber — eingesehen, daß sie ihm nicht wieder begegnen dürfe, daß er sich bald beruhigen und seiner Zeit mit einer andern Frau glücklich werden würde. Gewiß, das war Albert's Meinung, und war sie es vorher nicht ganz gewesen, so war sie es doch nun fest und unumstößlich, nachdem Emma ihn so treu angehört und so unschuldig geglaubt hatte. Er war zu stolz, um zu lügen, und das Kind? Mit acht Jahren war es den Sperlingen mit einer Hand voll Salz nachgelaufen, weil man ihm gesagt, es könne sie fangen, wenn sie sich's auf den Schwanz streuen ließen; warum sollte es mit siebzehn nicht glauben, daß ein junger Mann, der so gut und so schön war, nicht einst glücklich werden sollte? Und da Albert es so sicher aussprach! Wie sollte es denken, sein eigenes unschuldiges Persönchen sei irgend Jemand zu seinem Glücke nothwendig, es könnte Jemand sterben vor Sehnsucht nach ihm, oder nur Thränen vergießen? Wunderte es sich doch immer wieder heimlich über Albert's Herablassung und konnte nicht recht begreifen, warum er alle Tage so lange Gespräche mit ihm führte. Man war in der Stadt; die Koffer standen gepackt; am nächsten Morgen sollte die Reise angetreten <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0041"/> Sie war vertrauungsvoll gewesen, hatte Alles eingesehen, was er ihr klar und verständlich auseinander setzte; eingesehen, daß sie Emil nicht liebe, daß dergleichen oft bei jungen Männern vorkäme — man dürfe sie freilich bemitleiden, aber es ginge vorüber — eingesehen, daß sie ihm nicht wieder begegnen dürfe, daß er sich bald beruhigen und seiner Zeit mit einer andern Frau glücklich werden würde. Gewiß, das war Albert's Meinung, und war sie es vorher nicht ganz gewesen, so war sie es doch nun fest und unumstößlich, nachdem Emma ihn so treu angehört und so unschuldig geglaubt hatte. Er war zu stolz, um zu lügen, und das Kind? Mit acht Jahren war es den Sperlingen mit einer Hand voll Salz nachgelaufen, weil man ihm gesagt, es könne sie fangen, wenn sie sich's auf den Schwanz streuen ließen; warum sollte es mit siebzehn nicht glauben, daß ein junger Mann, der so gut und so schön war, nicht einst glücklich werden sollte? Und da Albert es so sicher aussprach! Wie sollte es denken, sein eigenes unschuldiges Persönchen sei irgend Jemand zu seinem Glücke nothwendig, es könnte Jemand sterben vor Sehnsucht nach ihm, oder nur Thränen vergießen? Wunderte es sich doch immer wieder heimlich über Albert's Herablassung und konnte nicht recht begreifen, warum er alle Tage so lange Gespräche mit ihm führte.</p><lb/> <p>Man war in der Stadt; die Koffer standen gepackt; am nächsten Morgen sollte die Reise angetreten<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0041]
Sie war vertrauungsvoll gewesen, hatte Alles eingesehen, was er ihr klar und verständlich auseinander setzte; eingesehen, daß sie Emil nicht liebe, daß dergleichen oft bei jungen Männern vorkäme — man dürfe sie freilich bemitleiden, aber es ginge vorüber — eingesehen, daß sie ihm nicht wieder begegnen dürfe, daß er sich bald beruhigen und seiner Zeit mit einer andern Frau glücklich werden würde. Gewiß, das war Albert's Meinung, und war sie es vorher nicht ganz gewesen, so war sie es doch nun fest und unumstößlich, nachdem Emma ihn so treu angehört und so unschuldig geglaubt hatte. Er war zu stolz, um zu lügen, und das Kind? Mit acht Jahren war es den Sperlingen mit einer Hand voll Salz nachgelaufen, weil man ihm gesagt, es könne sie fangen, wenn sie sich's auf den Schwanz streuen ließen; warum sollte es mit siebzehn nicht glauben, daß ein junger Mann, der so gut und so schön war, nicht einst glücklich werden sollte? Und da Albert es so sicher aussprach! Wie sollte es denken, sein eigenes unschuldiges Persönchen sei irgend Jemand zu seinem Glücke nothwendig, es könnte Jemand sterben vor Sehnsucht nach ihm, oder nur Thränen vergießen? Wunderte es sich doch immer wieder heimlich über Albert's Herablassung und konnte nicht recht begreifen, warum er alle Tage so lange Gespräche mit ihm führte.
Man war in der Stadt; die Koffer standen gepackt; am nächsten Morgen sollte die Reise angetreten
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Zitationshilfe: | Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_kind_1910/41>, abgerufen am 16.07.2024. |