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Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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mocht hatte, wie ein furchtsames Hündchen in die Ecke zu kriechen, daß er von freien Stücken ihr zwei Jahre und mehr schenken wollte, dies kam ihr so gut und großmüthig vor, daß sie Alles hätte vergessen und ihm dankbar die Hand küssen können, wie ihrem Papa, der ihr eine unerwartete Freude machte.

Es wäre Unrecht, etwas gegen Herrn von R. zu sagen. Er war in der Mitte der Dreißiger, er war gut und sanftmüthig, war interessant, er hatte nichts in seinem Wesen, daß man ihm nicht gern die Hand gedrückt hätte. Seine Augen waren nicht unheimlich, seine Haare nicht sorgfältig zusammen gekämmt, um einen kahlen Kopf zu verdecken: nichts von alledem, aber doch Eins: man fühlte ihm das an, was er auch nicht verleugnete, daß er lange, lange in lauter Ländern gewesen war, die nicht sein Vaterland waren, unter Menschen gelebt hatte, die nicht seine Freunde oder Verwandten waren, Dinge vor Augen gehabt hatte, die er zuerst neugierig betrachtet und hinterher gleichgültig verlassen hatte, und seine Seele trug den Stempel dieser Heimathlosigkeit. Man sieht einen englischen Koffer mit Vergnügen an, in welchen eine Menge der verschiedenartigsten Bedürfnisse so eingepaßt sind, daß keines das andere drückt und jedes leicht zu finden ist, daß Alles aufs Beste, Festeste in einander eingreift und von einem einzigen kleinen blanken Schlüssel verschlossen wird, den man an der Uhrkette tragen kann; man sieht das gern an und möchte es

mocht hatte, wie ein furchtsames Hündchen in die Ecke zu kriechen, daß er von freien Stücken ihr zwei Jahre und mehr schenken wollte, dies kam ihr so gut und großmüthig vor, daß sie Alles hätte vergessen und ihm dankbar die Hand küssen können, wie ihrem Papa, der ihr eine unerwartete Freude machte.

Es wäre Unrecht, etwas gegen Herrn von R. zu sagen. Er war in der Mitte der Dreißiger, er war gut und sanftmüthig, war interessant, er hatte nichts in seinem Wesen, daß man ihm nicht gern die Hand gedrückt hätte. Seine Augen waren nicht unheimlich, seine Haare nicht sorgfältig zusammen gekämmt, um einen kahlen Kopf zu verdecken: nichts von alledem, aber doch Eins: man fühlte ihm das an, was er auch nicht verleugnete, daß er lange, lange in lauter Ländern gewesen war, die nicht sein Vaterland waren, unter Menschen gelebt hatte, die nicht seine Freunde oder Verwandten waren, Dinge vor Augen gehabt hatte, die er zuerst neugierig betrachtet und hinterher gleichgültig verlassen hatte, und seine Seele trug den Stempel dieser Heimathlosigkeit. Man sieht einen englischen Koffer mit Vergnügen an, in welchen eine Menge der verschiedenartigsten Bedürfnisse so eingepaßt sind, daß keines das andere drückt und jedes leicht zu finden ist, daß Alles aufs Beste, Festeste in einander eingreift und von einem einzigen kleinen blanken Schlüssel verschlossen wird, den man an der Uhrkette tragen kann; man sieht das gern an und möchte es

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T10:24:04Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T10:24:04Z)

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Zitationshilfe: Grimm, Herman: Das Kind. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 6. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 275–356. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_kind_1910/15>, abgerufen am 24.11.2024.