grunde gelegt hat, wird eben durch die wahrnehmung unendlicher spaltungen der bedeutung genöthigt werden, die reine form als den einzigen haltpunct, der ihr übrig bleibt, zu faßen und von ihm aus die lösung des mannig- faltigen zu unternehmen. Sie darf es nicht scheuen, in den feinst zergliederten formen und bedeutungen nunmehr auch das bleibende und ähnliche zu verbinden und zus. zusetzen. Was aber dem buchstaben nach eins ist, kann der sache nach nicht ein anderes sein, oder wir hätten verwirrenden zufall gerade da anzunehmen, wo instinct- mäßig waltende ausspreitung eines geistigen ganzen, je näher wir ihm treten, lebhaftere bewunderung weckt.
Die anatomie der form ist freilich noch unvollendet und dies erst langsam zu tilgende gebrechen wird manchen fehler der etymologen unvermeidlich machen; doch ist auch kein fehlschlagen der arbeit im ganzen betrachtet, wie es die ungründliche kenntnis der form begleiten muste, länger zu fürchten. Wir werden endlich, nachdem wir die eintheilung, verstufung und abänderlichkeit der laute und flexionen erforscht haben, durch ihre anwendung auf die bedeutung, gleichsam die seele der wörter, gehei- men gängen und unterscheidungen des sprachgeistes auf die spur gerathen, und eine methode der bedeutungen erkennen, welche mit dem studium der form verbunden, glückliche wortforschungen überhaupt bedingt.
Darf der geäußerten allgemeinen ansicht ein augen- scheinliches argument zu statten kommen, so liegt es am tage: die gesammte starke conjugation in allen deutschen zungen kennt keine zwei wurzeln gleicher form, un- gleicher d. h. unverwandter bedeutung; sie leidet einzelne zweimahl auftretende formeln (s. 6.), immer aber an verschiedener stelle, so daß durch den eindruck des gan- zen, dessen sich heimlich die sprache bewußt bleibt, mög- liche zweideutigkeit aufgehoben wird [z. b. vis ist in nr. 292 laut, in 513 ablaut, aber die vollen reihen visan, vas, vesun; veisan, vais, visun haben sich eingeprägt; vgl. vritus nr. 544. mit vrits nr. 144. u. a. m.] oder wirklicher zweideutigkeit unorganische abweichung zu grunde liegt [vgl. fara nr. 549. st. fasa]. Was aber die starke verbal- form, die sich als wesentlichste eigenheit der sprache er- weist, an sich trägt, soll es nicht in allen engeren und dunkleren gegenden desselben gebietes vermuthet werden?
Dem schluße von der identität der form auf ver- wandtschaft der bedeutung widerstreben freilich viele wör-
III. laut u. ablaut. ſchlußbemerkungen.
grunde gelegt hat, wird eben durch die wahrnehmung unendlicher ſpaltungen der bedeutung genöthigt werden, die reine form als den einzigen haltpunct, der ihr übrig bleibt, zu faßen und von ihm aus die löſung des mannig- faltigen zu unternehmen. Sie darf es nicht ſcheuen, in den feinſt zergliederten formen und bedeutungen nunmehr auch das bleibende und ähnliche zu verbinden und zuſ. zuſetzen. Was aber dem buchſtaben nach eins iſt, kann der ſache nach nicht ein anderes ſein, oder wir hätten verwirrenden zufall gerade da anzunehmen, wo inſtinct- mäßig waltende ausſpreitung eines geiſtigen ganzen, je näher wir ihm treten, lebhaftere bewunderung weckt.
Die anatomie der form iſt freilich noch unvollendet und dies erſt langſam zu tilgende gebrechen wird manchen fehler der etymologen unvermeidlich machen; doch iſt auch kein fehlſchlagen der arbeit im ganzen betrachtet, wie es die ungründliche kenntnis der form begleiten muſte, länger zu fürchten. Wir werden endlich, nachdem wir die eintheilung, verſtufung und abänderlichkeit der laute und flexionen erforſcht haben, durch ihre anwendung auf die bedeutung, gleichſam die ſeele der wörter, gehei- men gängen und unterſcheidungen des ſprachgeiſtes auf die ſpur gerathen, und eine methode der bedeutungen erkennen, welche mit dem ſtudium der form verbunden, glückliche wortforſchungen überhaupt bedingt.
Darf der geäußerten allgemeinen anſicht ein augen- ſcheinliches argument zu ſtatten kommen, ſo liegt es am tage: die geſammte ſtarke conjugation in allen deutſchen zungen kennt keine zwei wurzeln gleicher form, un- gleicher d. h. unverwandter bedeutung; ſie leidet einzelne zweimahl auftretende formeln (ſ. 6.), immer aber an verſchiedener ſtelle, ſo daß durch den eindruck des gan- zen, deſſen ſich heimlich die ſprache bewußt bleibt, mög- liche zweideutigkeit aufgehoben wird [z. b. viſ iſt in nr. 292 laut, in 513 ablaut, aber die vollen reihen viſan, vas, vêſun; veiſan, váis, viſun haben ſich eingeprägt; vgl. vritus nr. 544. mit vrits nr. 144. u. a. m.] oder wirklicher zweideutigkeit unorganiſche abweichung zu grunde liegt [vgl. fara nr. 549. ſt. faſa]. Was aber die ſtarke verbal- form, die ſich als weſentlichſte eigenheit der ſprache er- weiſt, an ſich trägt, ſoll es nicht in allen engeren und dunkleren gegenden deſſelben gebietes vermuthet werden?
Dem ſchluße von der identität der form auf ver- wandtſchaft der bedeutung widerſtreben freilich viele wör-
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III. laut u. ablaut. ſchlußbemerkungen.
grunde gelegt hat, wird eben durch die wahrnehmung
unendlicher ſpaltungen der bedeutung genöthigt werden,
die reine form als den einzigen haltpunct, der ihr übrig
bleibt, zu faßen und von ihm aus die löſung des mannig-
faltigen zu unternehmen. Sie darf es nicht ſcheuen, in
den feinſt zergliederten formen und bedeutungen nunmehr
auch das bleibende und ähnliche zu verbinden und zuſ.
zuſetzen. Was aber dem buchſtaben nach eins iſt, kann
der ſache nach nicht ein anderes ſein, oder wir hätten
verwirrenden zufall gerade da anzunehmen, wo inſtinct-
mäßig waltende ausſpreitung eines geiſtigen ganzen, je
näher wir ihm treten, lebhaftere bewunderung weckt.
Die anatomie der form iſt freilich noch unvollendet
und dies erſt langſam zu tilgende gebrechen wird manchen
fehler der etymologen unvermeidlich machen; doch iſt
auch kein fehlſchlagen der arbeit im ganzen betrachtet,
wie es die ungründliche kenntnis der form begleiten muſte,
länger zu fürchten. Wir werden endlich, nachdem wir
die eintheilung, verſtufung und abänderlichkeit der laute
und flexionen erforſcht haben, durch ihre anwendung
auf die bedeutung, gleichſam die ſeele der wörter, gehei-
men gängen und unterſcheidungen des ſprachgeiſtes auf
die ſpur gerathen, und eine methode der bedeutungen
erkennen, welche mit dem ſtudium der form verbunden,
glückliche wortforſchungen überhaupt bedingt.
Darf der geäußerten allgemeinen anſicht ein augen-
ſcheinliches argument zu ſtatten kommen, ſo liegt es am
tage: die geſammte ſtarke conjugation in allen deutſchen
zungen kennt keine zwei wurzeln gleicher form, un-
gleicher d. h. unverwandter bedeutung; ſie leidet einzelne
zweimahl auftretende formeln (ſ. 6.), immer aber an
verſchiedener ſtelle, ſo daß durch den eindruck des gan-
zen, deſſen ſich heimlich die ſprache bewußt bleibt, mög-
liche zweideutigkeit aufgehoben wird [z. b. viſ iſt in nr.
292 laut, in 513 ablaut, aber die vollen reihen viſan, vas,
vêſun; veiſan, váis, viſun haben ſich eingeprägt; vgl.
vritus nr. 544. mit vrits nr. 144. u. a. m.] oder wirklicher
zweideutigkeit unorganiſche abweichung zu grunde liegt
[vgl. fara nr. 549. ſt. faſa]. Was aber die ſtarke verbal-
form, die ſich als weſentlichſte eigenheit der ſprache er-
weiſt, an ſich trägt, ſoll es nicht in allen engeren und
dunkleren gegenden deſſelben gebietes vermuthet werden?
Dem ſchluße von der identität der form auf ver-
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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/95>, abgerufen am 22.11.2024.
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