Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

Bild:
<< vorherige Seite

III. laut u. ablaut. schlußbemerkungen.
grunde gelegt hat, wird eben durch die wahrnehmung
unendlicher spaltungen der bedeutung genöthigt werden,
die reine form als den einzigen haltpunct, der ihr übrig
bleibt, zu faßen und von ihm aus die lösung des mannig-
faltigen zu unternehmen. Sie darf es nicht scheuen, in
den feinst zergliederten formen und bedeutungen nunmehr
auch das bleibende und ähnliche zu verbinden und zus.
zusetzen. Was aber dem buchstaben nach eins ist, kann
der sache nach nicht ein anderes sein, oder wir hätten
verwirrenden zufall gerade da anzunehmen, wo instinct-
mäßig waltende ausspreitung eines geistigen ganzen, je
näher wir ihm treten, lebhaftere bewunderung weckt.

Die anatomie der form ist freilich noch unvollendet
und dies erst langsam zu tilgende gebrechen wird manchen
fehler der etymologen unvermeidlich machen; doch ist
auch kein fehlschlagen der arbeit im ganzen betrachtet,
wie es die ungründliche kenntnis der form begleiten muste,
länger zu fürchten. Wir werden endlich, nachdem wir
die eintheilung, verstufung und abänderlichkeit der laute
und flexionen erforscht haben, durch ihre anwendung
auf die bedeutung, gleichsam die seele der wörter, gehei-
men gängen und unterscheidungen des sprachgeistes auf
die spur gerathen, und eine methode der bedeutungen
erkennen, welche mit dem studium der form verbunden,
glückliche wortforschungen überhaupt bedingt.

Darf der geäußerten allgemeinen ansicht ein augen-
scheinliches argument zu statten kommen, so liegt es am
tage: die gesammte starke conjugation in allen deutschen
zungen kennt keine zwei wurzeln gleicher form, un-
gleicher d. h. unverwandter bedeutung; sie leidet einzelne
zweimahl auftretende formeln (s. 6.), immer aber an
verschiedener stelle, so daß durch den eindruck des gan-
zen, dessen sich heimlich die sprache bewußt bleibt, mög-
liche zweideutigkeit aufgehoben wird [z. b. vis ist in nr.
292 laut, in 513 ablaut, aber die vollen reihen visan, vas,
vesun; veisan, vais, visun haben sich eingeprägt; vgl.
vritus nr. 544. mit vrits nr. 144. u. a. m.] oder wirklicher
zweideutigkeit unorganische abweichung zu grunde liegt
[vgl. fara nr. 549. st. fasa]. Was aber die starke verbal-
form, die sich als wesentlichste eigenheit der sprache er-
weist, an sich trägt, soll es nicht in allen engeren und
dunkleren gegenden desselben gebietes vermuthet werden?

Dem schluße von der identität der form auf ver-
wandtschaft der bedeutung widerstreben freilich viele wör-

III. laut u. ablaut. ſchlußbemerkungen.
grunde gelegt hat, wird eben durch die wahrnehmung
unendlicher ſpaltungen der bedeutung genöthigt werden,
die reine form als den einzigen haltpunct, der ihr übrig
bleibt, zu faßen und von ihm aus die löſung des mannig-
faltigen zu unternehmen. Sie darf es nicht ſcheuen, in
den feinſt zergliederten formen und bedeutungen nunmehr
auch das bleibende und ähnliche zu verbinden und zuſ.
zuſetzen. Was aber dem buchſtaben nach eins iſt, kann
der ſache nach nicht ein anderes ſein, oder wir hätten
verwirrenden zufall gerade da anzunehmen, wo inſtinct-
mäßig waltende ausſpreitung eines geiſtigen ganzen, je
näher wir ihm treten, lebhaftere bewunderung weckt.

Die anatomie der form iſt freilich noch unvollendet
und dies erſt langſam zu tilgende gebrechen wird manchen
fehler der etymologen unvermeidlich machen; doch iſt
auch kein fehlſchlagen der arbeit im ganzen betrachtet,
wie es die ungründliche kenntnis der form begleiten muſte,
länger zu fürchten. Wir werden endlich, nachdem wir
die eintheilung, verſtufung und abänderlichkeit der laute
und flexionen erforſcht haben, durch ihre anwendung
auf die bedeutung, gleichſam die ſeele der wörter, gehei-
men gängen und unterſcheidungen des ſprachgeiſtes auf
die ſpur gerathen, und eine methode der bedeutungen
erkennen, welche mit dem ſtudium der form verbunden,
glückliche wortforſchungen überhaupt bedingt.

Darf der geäußerten allgemeinen anſicht ein augen-
ſcheinliches argument zu ſtatten kommen, ſo liegt es am
tage: die geſammte ſtarke conjugation in allen deutſchen
zungen kennt keine zwei wurzeln gleicher form, un-
gleicher d. h. unverwandter bedeutung; ſie leidet einzelne
zweimahl auftretende formeln (ſ. 6.), immer aber an
verſchiedener ſtelle, ſo daß durch den eindruck des gan-
zen, deſſen ſich heimlich die ſprache bewußt bleibt, mög-
liche zweideutigkeit aufgehoben wird [z. b. viſ iſt in nr.
292 laut, in 513 ablaut, aber die vollen reihen viſan, vas,
vêſun; veiſan, váis, viſun haben ſich eingeprägt; vgl.
vritus nr. 544. mit vrits nr. 144. u. a. m.] oder wirklicher
zweideutigkeit unorganiſche abweichung zu grunde liegt
[vgl. fara nr. 549. ſt. faſa]. Was aber die ſtarke verbal-
form, die ſich als weſentlichſte eigenheit der ſprache er-
weiſt, an ſich trägt, ſoll es nicht in allen engeren und
dunkleren gegenden deſſelben gebietes vermuthet werden?

Dem ſchluße von der identität der form auf ver-
wandtſchaft der bedeutung widerſtreben freilich viele wör-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0095" n="77"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">III. <hi rendition="#i">laut u. ablaut. &#x017F;chlußbemerkungen.</hi></hi></fw><lb/>
grunde gelegt hat, wird eben durch die wahrnehmung<lb/>
unendlicher &#x017F;paltungen der bedeutung genöthigt werden,<lb/>
die reine form als den einzigen haltpunct, der ihr übrig<lb/>
bleibt, zu faßen und von ihm aus die lö&#x017F;ung des mannig-<lb/>
faltigen zu unternehmen. Sie darf es nicht &#x017F;cheuen, in<lb/>
den fein&#x017F;t zergliederten formen und bedeutungen nunmehr<lb/>
auch das bleibende und ähnliche zu verbinden und zu&#x017F;.<lb/>
zu&#x017F;etzen. Was aber dem buch&#x017F;taben nach eins i&#x017F;t, kann<lb/>
der &#x017F;ache nach nicht ein anderes &#x017F;ein, oder wir hätten<lb/>
verwirrenden zufall gerade da anzunehmen, wo in&#x017F;tinct-<lb/>
mäßig waltende aus&#x017F;preitung eines gei&#x017F;tigen ganzen, je<lb/>
näher wir ihm treten, lebhaftere bewunderung weckt.</p><lb/>
            <p>Die anatomie der form i&#x017F;t freilich noch unvollendet<lb/>
und dies er&#x017F;t lang&#x017F;am zu tilgende gebrechen wird manchen<lb/>
fehler der etymologen unvermeidlich machen; doch i&#x017F;t<lb/>
auch kein fehl&#x017F;chlagen der arbeit im ganzen betrachtet,<lb/>
wie es die ungründliche kenntnis der form begleiten mu&#x017F;te,<lb/>
länger zu fürchten. Wir werden endlich, nachdem wir<lb/>
die eintheilung, ver&#x017F;tufung und abänderlichkeit der laute<lb/>
und flexionen erfor&#x017F;cht haben, durch ihre anwendung<lb/>
auf die bedeutung, gleich&#x017F;am die &#x017F;eele der wörter, gehei-<lb/>
men gängen und unter&#x017F;cheidungen des &#x017F;prachgei&#x017F;tes auf<lb/>
die &#x017F;pur gerathen, und eine methode der bedeutungen<lb/>
erkennen, welche mit dem &#x017F;tudium der form verbunden,<lb/>
glückliche wortfor&#x017F;chungen überhaupt bedingt.</p><lb/>
            <p>Darf der geäußerten allgemeinen an&#x017F;icht ein augen-<lb/>
&#x017F;cheinliches argument zu &#x017F;tatten kommen, &#x017F;o liegt es am<lb/>
tage: die ge&#x017F;ammte &#x017F;tarke conjugation in allen deut&#x017F;chen<lb/>
zungen kennt keine zwei wurzeln gleicher form, un-<lb/>
gleicher d. h. unverwandter bedeutung; &#x017F;ie leidet einzelne<lb/>
zweimahl auftretende formeln (&#x017F;. 6.), immer aber an<lb/>
ver&#x017F;chiedener &#x017F;telle, &#x017F;o daß durch den eindruck des gan-<lb/>
zen, de&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich heimlich die &#x017F;prache bewußt bleibt, mög-<lb/>
liche zweideutigkeit aufgehoben wird [z. b. vi&#x017F; i&#x017F;t in nr.<lb/>
292 laut, in 513 ablaut, aber die vollen reihen vi&#x017F;an, vas,<lb/>&#x017F;un; vei&#x017F;an, váis, vi&#x017F;un haben &#x017F;ich eingeprägt; vgl.<lb/>
vritus nr. 544. mit vrits nr. 144. u. a. m.] oder wirklicher<lb/>
zweideutigkeit unorgani&#x017F;che abweichung zu grunde liegt<lb/>
[vgl. fara nr. 549. &#x017F;t. fa&#x017F;a]. Was aber die &#x017F;tarke verbal-<lb/>
form, die &#x017F;ich als we&#x017F;entlich&#x017F;te eigenheit der &#x017F;prache er-<lb/>
wei&#x017F;t, an &#x017F;ich trägt, &#x017F;oll es nicht in allen engeren und<lb/>
dunkleren gegenden de&#x017F;&#x017F;elben gebietes vermuthet werden?</p><lb/>
            <p>Dem &#x017F;chluße von der identität der form auf ver-<lb/>
wandt&#x017F;chaft der bedeutung wider&#x017F;treben freilich viele wör-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[77/0095] III. laut u. ablaut. ſchlußbemerkungen. grunde gelegt hat, wird eben durch die wahrnehmung unendlicher ſpaltungen der bedeutung genöthigt werden, die reine form als den einzigen haltpunct, der ihr übrig bleibt, zu faßen und von ihm aus die löſung des mannig- faltigen zu unternehmen. Sie darf es nicht ſcheuen, in den feinſt zergliederten formen und bedeutungen nunmehr auch das bleibende und ähnliche zu verbinden und zuſ. zuſetzen. Was aber dem buchſtaben nach eins iſt, kann der ſache nach nicht ein anderes ſein, oder wir hätten verwirrenden zufall gerade da anzunehmen, wo inſtinct- mäßig waltende ausſpreitung eines geiſtigen ganzen, je näher wir ihm treten, lebhaftere bewunderung weckt. Die anatomie der form iſt freilich noch unvollendet und dies erſt langſam zu tilgende gebrechen wird manchen fehler der etymologen unvermeidlich machen; doch iſt auch kein fehlſchlagen der arbeit im ganzen betrachtet, wie es die ungründliche kenntnis der form begleiten muſte, länger zu fürchten. Wir werden endlich, nachdem wir die eintheilung, verſtufung und abänderlichkeit der laute und flexionen erforſcht haben, durch ihre anwendung auf die bedeutung, gleichſam die ſeele der wörter, gehei- men gängen und unterſcheidungen des ſprachgeiſtes auf die ſpur gerathen, und eine methode der bedeutungen erkennen, welche mit dem ſtudium der form verbunden, glückliche wortforſchungen überhaupt bedingt. Darf der geäußerten allgemeinen anſicht ein augen- ſcheinliches argument zu ſtatten kommen, ſo liegt es am tage: die geſammte ſtarke conjugation in allen deutſchen zungen kennt keine zwei wurzeln gleicher form, un- gleicher d. h. unverwandter bedeutung; ſie leidet einzelne zweimahl auftretende formeln (ſ. 6.), immer aber an verſchiedener ſtelle, ſo daß durch den eindruck des gan- zen, deſſen ſich heimlich die ſprache bewußt bleibt, mög- liche zweideutigkeit aufgehoben wird [z. b. viſ iſt in nr. 292 laut, in 513 ablaut, aber die vollen reihen viſan, vas, vêſun; veiſan, váis, viſun haben ſich eingeprägt; vgl. vritus nr. 544. mit vrits nr. 144. u. a. m.] oder wirklicher zweideutigkeit unorganiſche abweichung zu grunde liegt [vgl. fara nr. 549. ſt. faſa]. Was aber die ſtarke verbal- form, die ſich als weſentlichſte eigenheit der ſprache er- weiſt, an ſich trägt, ſoll es nicht in allen engeren und dunkleren gegenden deſſelben gebietes vermuthet werden? Dem ſchluße von der identität der form auf ver- wandtſchaft der bedeutung widerſtreben freilich viele wör-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/95
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/95>, abgerufen am 22.11.2024.