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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826.

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III. adjectivische uneigentliche composition.
164b. Mhd. kann man uneigentliche comp. annehmen,
da sie die sicherung der flexion -e in alre-gernest (luben-
tissime) erklären hilft, es stehet aber auch bloßes aller,
z. b. aller-best, aller-erst, alrerst (primum) aller-wirsest
(pessimus) Nib. 8004. aller-herest Barl. aller-schoenst Parc. 57c
aller-großest kl. 287. etc. Dazwischen gestelltes subst. hin-
dert die accretion, z. b. aller dirnkinde beste Maria 50.

2) die unorganischen fälle dieser composition gründen
sich auf verhärtung einer flexion, die ursprünglich nur
einen bestimmten casus bezeichnet und nun auch für an-
dere mitgilt. Der nhd. nom. mitter-nacht entspringt aus
dem häufigen gebrauch des gen. und dat. mitter nacht;
mhd. sagte man noch richtig: umbe mitte naht Wigal.
205. nach mitter nacht ibid. 267. so wie mitter tac, mit-
tes tages, mittem tage, mitten tac, mitter morgen etc.
Das nhd. mit-tag, gen. mit-tages ist untadelhaft, nämlich
eigentliche composition. Seitenstück zu unserm mitter-
nacht ist das schwed. unger-sven, dän. unger-svend (ju-
venis), das für alle casus gebraucht wird und doch nur
dem nom. zukommt, vgl. sv. folkv. 3, 150; in nhd. ei-
gennamen z. b. lieber-mann, liebes-kind begegnet dieselbe
anomalie. Unzähligemahl in örtlichen namen und manns-
namen, die aus solchen örtlichen erwachsen. Die alte
syntax stellt ortsnamen meist in den dativ, mit den prae-
positionen aß, zi, in u. a.; noch mhd. diu stat ze wor-
meße (nhd. die stadt worms). Da nun gleichnamige ör-
ter durch beigefügte adj. unterschieden werden musten,
so entstand eine menge von benennungen, wie: zum hei-
ligen kreuz, hohen berg, hohen fels, kalten born, langen
stein, schwarzen fels, weißen stein; zur alten burg, heili-
gen stadt, neuen kirchen, rothen kirchen; zu reichen
sachsen, hohen linden; namen fügen sich aber leicht in
ein ganzes zusammen (s. 600.) und das componierte kal-
ten-born, langen-stein herrschte auch für die übrigen
casus. Bewohner der gegend selbst, die den grund des
namens verstanden, declinierten das adj. sicher am läng-
sten: der rothe stein, des rothen steins, am rothen stein;
entferntere hielten sich an die dative form, in welcher
er zu ihnen gelangt war. Wie frühe solche uneigentliche
composita vorkommen? das älteste mir bekannte beispiel
(in freilich ältern lat. diplomen hat man keine sicherheit
der construction) steht N. 71, 16: uber hom-berch (lyba-
num) acc., was sich kaum anders deuten läßt, als hohen
berg, zumahl hin und wieder der ortsname hom-berg,
hom-burg gefunden wird, [m scheint rückwirkung der

III. adjectiviſche uneigentliche compoſition.
164b. Mhd. kann man uneigentliche comp. annehmen,
da ſie die ſicherung der flexion -e in alre-gërneſt (luben-
tiſſime) erklären hilft, es ſtehet aber auch bloßes aller,
z. b. aller-beſt, aller-êrſt, alrêrſt (primum) aller-wirſeſt
(peſſimus) Nib. 8004. aller-hêreſt Barl. aller-ſchœnſt Parc. 57c
aller-grôƷeſt kl. 287. etc. Dazwiſchen geſtelltes ſubſt. hin-
dert die accretion, z. b. aller dirnkinde beſte Maria 50.

2) die unorganiſchen fälle dieſer compoſition gründen
ſich auf verhärtung einer flexion, die urſprünglich nur
einen beſtimmten caſus bezeichnet und nun auch für an-
dere mitgilt. Der nhd. nom. mitter-nacht entſpringt aus
dem häufigen gebrauch des gen. und dat. mitter nacht;
mhd. ſagte man noch richtig: umbe mitte naht Wigal.
205. nâch mitter nacht ibid. 267. ſo wie mitter tac, mit-
tes tages, mittem tage, mitten tac, mitter morgen etc.
Das nhd. mit-tag, gen. mit-tages iſt untadelhaft, nämlich
eigentliche compoſition. Seitenſtück zu unſerm mitter-
nacht iſt das ſchwed. unger-ſven, dän. unger-ſvend (ju-
venis), das für alle caſus gebraucht wird und doch nur
dem nom. zukommt, vgl. ſv. folkv. 3, 150; in nhd. ei-
gennamen z. b. lieber-mann, liebes-kind begegnet dieſelbe
anomalie. Unzähligemahl in örtlichen namen und manns-
namen, die aus ſolchen örtlichen erwachſen. Die alte
ſyntax ſtellt ortsnamen meiſt in den dativ, mit den prae-
poſitionen aƷ, zi, in u. a.; noch mhd. diu ſtat ze wor-
meƷe (nhd. die ſtadt worms). Da nun gleichnamige ör-
ter durch beigefügte adj. unterſchieden werden muſten,
ſo entſtand eine menge von benennungen, wie: zum hei-
ligen kreuz, hohen berg, hohen fels, kalten born, langen
ſtein, ſchwarzen fels, weißen ſtein; zur alten burg, heili-
gen ſtadt, neuen kirchen, rothen kirchen; zu reichen
ſachſen, hohen linden; namen fügen ſich aber leicht in
ein ganzes zuſammen (ſ. 600.) und das componierte kal-
ten-born, langen-ſtein herrſchte auch für die übrigen
caſus. Bewohner der gegend ſelbſt, die den grund des
namens verſtanden, declinierten das adj. ſicher am läng-
ſten: der rothe ſtein, des rothen ſteins, am rothen ſtein;
entferntere hielten ſich an die dative form, in welcher
er zu ihnen gelangt war. Wie frühe ſolche uneigentliche
compoſita vorkommen? das älteſte mir bekannte beiſpiel
(in freilich ältern lat. diplomen hat man keine ſicherheit
der conſtruction) ſteht N. 71, 16: uber hôm-bërch (lyba-
num) acc., was ſich kaum anders deuten läßt, als hohen
berg, zumahl hin und wieder der ortsname hom-berg,
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[677/0695] III. adjectiviſche uneigentliche compoſition. 164b. Mhd. kann man uneigentliche comp. annehmen, da ſie die ſicherung der flexion -e in alre-gërneſt (luben- tiſſime) erklären hilft, es ſtehet aber auch bloßes aller, z. b. aller-beſt, aller-êrſt, alrêrſt (primum) aller-wirſeſt (peſſimus) Nib. 8004. aller-hêreſt Barl. aller-ſchœnſt Parc. 57c aller-grôƷeſt kl. 287. etc. Dazwiſchen geſtelltes ſubſt. hin- dert die accretion, z. b. aller dirnkinde beſte Maria 50. 2) die unorganiſchen fälle dieſer compoſition gründen ſich auf verhärtung einer flexion, die urſprünglich nur einen beſtimmten caſus bezeichnet und nun auch für an- dere mitgilt. Der nhd. nom. mitter-nacht entſpringt aus dem häufigen gebrauch des gen. und dat. mitter nacht; mhd. ſagte man noch richtig: umbe mitte naht Wigal. 205. nâch mitter nacht ibid. 267. ſo wie mitter tac, mit- tes tages, mittem tage, mitten tac, mitter morgen etc. Das nhd. mit-tag, gen. mit-tages iſt untadelhaft, nämlich eigentliche compoſition. Seitenſtück zu unſerm mitter- nacht iſt das ſchwed. unger-ſven, dän. unger-ſvend (ju- venis), das für alle caſus gebraucht wird und doch nur dem nom. zukommt, vgl. ſv. folkv. 3, 150; in nhd. ei- gennamen z. b. lieber-mann, liebes-kind begegnet dieſelbe anomalie. Unzähligemahl in örtlichen namen und manns- namen, die aus ſolchen örtlichen erwachſen. Die alte ſyntax ſtellt ortsnamen meiſt in den dativ, mit den prae- poſitionen aƷ, zi, in u. a.; noch mhd. diu ſtat ze wor- meƷe (nhd. die ſtadt worms). Da nun gleichnamige ör- ter durch beigefügte adj. unterſchieden werden muſten, ſo entſtand eine menge von benennungen, wie: zum hei- ligen kreuz, hohen berg, hohen fels, kalten born, langen ſtein, ſchwarzen fels, weißen ſtein; zur alten burg, heili- gen ſtadt, neuen kirchen, rothen kirchen; zu reichen ſachſen, hohen linden; namen fügen ſich aber leicht in ein ganzes zuſammen (ſ. 600.) und das componierte kal- ten-born, langen-ſtein herrſchte auch für die übrigen caſus. Bewohner der gegend ſelbſt, die den grund des namens verſtanden, declinierten das adj. ſicher am läng- ſten: der rothe ſtein, des rothen ſteins, am rothen ſtein; entferntere hielten ſich an die dative form, in welcher er zu ihnen gelangt war. Wie frühe ſolche uneigentliche compoſita vorkommen? das älteſte mir bekannte beiſpiel (in freilich ältern lat. diplomen hat man keine ſicherheit der conſtruction) ſteht N. 71, 16: uber hôm-bërch (lyba- num) acc., was ſich kaum anders deuten läßt, als hohen berg, zumahl hin und wieder der ortsname hom-berg, hom-burg gefunden wird, [m ſcheint rückwirkung der

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 2. Göttingen, 1826, S. 677. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik02_1826/695>, abgerufen am 22.11.2024.