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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. übersicht der langen vocale.
niederd. mundart besitzen sechs dehnlaute und einen
diphth.; in der altsächs. schwankt der zweite laut
zwischen o und uo, sonst würde von ihr dasselbe gel-
ten; fünf gedehnte und zwei diphth. sind der angels.
schwed. und dän. eigen, indem das a, aa wie ao zu
betrachten ist; vier gedehnte und drei diphth. der
altnord., den gl. hrab.; drei gedehnte und vier diphth.
der goth. norweg. den meisten alth. und der mittelh.;
zwei gedehnte und fünf diphth. der neuh., folglich
unter allen der härtesten; hätte sie nicht uo in au ver-
dichtet, so besäße sie bloß einen dehnlaut neben sechs
diphth. Es gibt aber keine mundart, welche bloß
gleichartige oder bloß ungleichartige vocallängen auf-
weisen könnte.
2) die stetigsten laute sind ohne zweifel a, au. ei in der
ersten, dritten und sechsten reihe, die unstetigsten e
und o, welches sich dem durchgreifen der kurzen a,
u, i im gegensatz zu e und o vergleichen läßt, aber
nicht zum schluß berechtigt, daß, wie e, o aus ai,
au stammten, ebenfalls e, o aus ai, au entspringen,
obschon auch das angels. ea und ea (nicht eo und a)
verwandt scheinen. Im goth. sind e und ai; o und
au fern von einander, ebenso im altn. a von ei; o
von au. Nur in den sächs. dialecten berühren sich
beide, im mittelniederd. o und au, im mittelengl. e
und ai. Der ursprung des ai und au, des e und o
liegt über die grenze der geschichte unserer sprache
hinaus.
3) aller hochdeutschen mundarten characteristische eigen-
heit ist die spaltung des vierten und fünften lauts in
zwei arten, welche von dem nachfolgenden cons. ab-
hängen; ohne rücksicht auf die übrigen deutschen spra-
chen würde man der hochdeutschen neun hauptlän-
gen statt sieben zuerkennen (oder zehen, wegen einer
nicht ganz analogen zerlegung der siebenten reihe, die
auch im nord. gilt). Diese laute halten sich bis aufs
neuh. in glücklicher unverwirrung, die gl. hrab. ha-
ben in 5. ao, weil sie schon in 2. o verwenden; die
übrigen gebrauchen in 2. oa, uo, uo, wodurch o für 5.
frei wird. Erst im neuh. mischen sich au und ei mit
dem unorg. au, ei der reihe 3 und 6; no in 2. war
nicht mehr nöthig, seit das org. au zu au wurde. --
Die niederl. mundart schwankt zwischen hoch- und
niederdeutscher, indem sie die spaltung der 4ten reihe
(nicht der 5ten) zuläßt, wiewohl unsicher und mit
O o 2
I. überſicht der langen vocale.
niederd. mundart beſitzen ſechs dehnlaute und einen
diphth.; in der altſächſ. ſchwankt der zweite laut
zwiſchen o und uo, ſonſt würde von ihr dasſelbe gel-
ten; fünf gedehnte und zwei diphth. ſind der angelſ.
ſchwed. und dän. eigen, indem das å, aa wie ao zu
betrachten iſt; vier gedehnte und drei diphth. der
altnord., den gl. hrab.; drei gedehnte und vier diphth.
der goth. norweg. den meiſten alth. und der mittelh.;
zwei gedehnte und fünf diphth. der neuh., folglich
unter allen der härteſten; hätte ſie nicht uo in û ver-
dichtet, ſo beſäße ſie bloß einen dehnlaut neben ſechs
diphth. Es gibt aber keine mundart, welche bloß
gleichartige oder bloß ungleichartige vocallängen auf-
weiſen könnte.
2) die ſtetigſten laute ſind ohne zweifel â, û. î in der
erſten, dritten und ſechſten reihe, die unſtetigſten ê
und ô, welches ſich dem durchgreifen der kurzen a,
u, i im gegenſatz zu ë und o vergleichen läßt, aber
nicht zum ſchluß berechtigt, daß, wie ë, o aus aí,
aú ſtammten, ebenfalls ê, ô aus ái, áu entſpringen,
obſchon auch das angelſ. eá und ëa (nicht ëo und â)
verwandt ſcheinen. Im goth. ſind ê und ái; ô und
áu fern von einander, ebenſo im altn. â von ei; ô
von au. Nur in den ſächſ. dialecten berühren ſich
beide, im mittelniederd. ô und au, im mittelengl. ê
und ái. Der urſprung des ai und áu, des ê und ô
liegt über die grenze der geſchichte unſerer ſprache
hinaus.
3) aller hochdeutſchen mundarten characteriſtiſche eigen-
heit iſt die ſpaltung des vierten und fünften lauts in
zwei arten, welche von dem nachfolgenden conſ. ab-
hängen; ohne rückſicht auf die übrigen deutſchen ſpra-
chen würde man der hochdeutſchen neun hauptlän-
gen ſtatt ſieben zuerkennen (oder zehen, wegen einer
nicht ganz analogen zerlegung der ſiebenten reihe, die
auch im nord. gilt). Dieſe laute halten ſich bis aufs
neuh. in glücklicher unverwirrung, die gl. hrab. ha-
ben in 5. ao, weil ſie ſchon in 2. ô verwenden; die
übrigen gebrauchen in 2. oa, uo, uo, wodurch ô für 5.
frei wird. Erſt im neuh. miſchen ſich au und ei mit
dem unorg. au, ei der reihe 3 und 6; no in 2. war
nicht mehr nöthig, ſeit das org. û zu au wurde. —
Die niederl. mundart ſchwankt zwiſchen hoch- und
niederdeutſcher, indem ſie die ſpaltung der 4ten reihe
(nicht der 5ten) zuläßt, wiewohl unſicher und mit
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[579/0605] I. überſicht der langen vocale. niederd. mundart beſitzen ſechs dehnlaute und einen diphth.; in der altſächſ. ſchwankt der zweite laut zwiſchen o und uo, ſonſt würde von ihr dasſelbe gel- ten; fünf gedehnte und zwei diphth. ſind der angelſ. ſchwed. und dän. eigen, indem das å, aa wie ao zu betrachten iſt; vier gedehnte und drei diphth. der altnord., den gl. hrab.; drei gedehnte und vier diphth. der goth. norweg. den meiſten alth. und der mittelh.; zwei gedehnte und fünf diphth. der neuh., folglich unter allen der härteſten; hätte ſie nicht uo in û ver- dichtet, ſo beſäße ſie bloß einen dehnlaut neben ſechs diphth. Es gibt aber keine mundart, welche bloß gleichartige oder bloß ungleichartige vocallängen auf- weiſen könnte. 2) die ſtetigſten laute ſind ohne zweifel â, û. î in der erſten, dritten und ſechſten reihe, die unſtetigſten ê und ô, welches ſich dem durchgreifen der kurzen a, u, i im gegenſatz zu ë und o vergleichen läßt, aber nicht zum ſchluß berechtigt, daß, wie ë, o aus aí, aú ſtammten, ebenfalls ê, ô aus ái, áu entſpringen, obſchon auch das angelſ. eá und ëa (nicht ëo und â) verwandt ſcheinen. Im goth. ſind ê und ái; ô und áu fern von einander, ebenſo im altn. â von ei; ô von au. Nur in den ſächſ. dialecten berühren ſich beide, im mittelniederd. ô und au, im mittelengl. ê und ái. Der urſprung des ai und áu, des ê und ô liegt über die grenze der geſchichte unſerer ſprache hinaus. 3) aller hochdeutſchen mundarten characteriſtiſche eigen- heit iſt die ſpaltung des vierten und fünften lauts in zwei arten, welche von dem nachfolgenden conſ. ab- hängen; ohne rückſicht auf die übrigen deutſchen ſpra- chen würde man der hochdeutſchen neun hauptlän- gen ſtatt ſieben zuerkennen (oder zehen, wegen einer nicht ganz analogen zerlegung der ſiebenten reihe, die auch im nord. gilt). Dieſe laute halten ſich bis aufs neuh. in glücklicher unverwirrung, die gl. hrab. ha- ben in 5. ao, weil ſie ſchon in 2. ô verwenden; die übrigen gebrauchen in 2. oa, uo, uo, wodurch ô für 5. frei wird. Erſt im neuh. miſchen ſich au und ei mit dem unorg. au, ei der reihe 3 und 6; no in 2. war nicht mehr nöthig, ſeit das org. û zu au wurde. — Die niederl. mundart ſchwankt zwiſchen hoch- und niederdeutſcher, indem ſie die ſpaltung der 4ten reihe (nicht der 5ten) zuläßt, wiewohl unſicher und mit O o 2

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 579. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/605>, abgerufen am 26.11.2024.