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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. mittelniederländische vocale.
doghet (virtus) verhoghen (exhilarare) dor (porta) cor
(electio) scoren (rumpere) scorde oder scorde (laceravit,
lacerabatur) jode (judaeus) rode (canis) inzwischen zei-
gen die hss. neben diesem o in denselben wörtern bald
eu bald ue, z. b. Maerl. 2, 132. 178. liest man den reim
jeuden:reuden, 196. 314. 367. jueden:rueden; 2, 61.
doghet:verhoghet, 2, 139. deughet:verheughet, 1, 233.
dueghet:jueghet; 2, 152. scuerde und sceurde hinterein-
ander; Huyd. op St. 2, 17. erklärt beide, eu und ue,
für in der aussprache zus. fallend. Offenbar ist aber die
eine schreibung, nämlich ue, ganz verwerflich, wie
schon aus dem neuniederl. eu (und nicht ue) folgt, das
auch andere frühere o vertritt, z. b neus, reus (mittel-
niederl. nose, rose = nese, rese). Die hentige aussprache
dieses eu, nämlich ö, wage ich nicht für jenes alte o,
eu, anzunehmen. Kurz scheint mir der laut in jedem
fall und schon deswegen gibt ihm das diphthong. eu
ein falsches ansehen. Vom triphthong. eu ganz ver-
schieden.

(IE) häufiger doppellaut, welcher 1) meistens mit
dem mittelh. ie übereinstimmt, beispiele: knie (genu)
niemen (nemo) vlien (fugere) dienen (servire) hiet (vo-
cabatur) liet (sinebat) miede (munnus) riep (vocabat) liep.
sliep. viel (cadebat) bier (cerevisia) vier (quatuor) dier (ani-
mal) hier (hic) lief (carus) dief (fur) dierne (famula Maerl.
3, 341.) vriesen (frisones) verlies (jactura) vliet (fluentum)
vlieten (fluere) liegen (mentiri) etc. Seltnere dem mittelh.
mangelnde wörter sind:lier (gena, altn. hler) miere (formica
altn. maur) snieme (subito, alth. sniumo) ries (stultus)
briesscen (rugire) liesscen (Maerl. 1, 452.) -- 2) die fort-
schreitende verwandlung der alten iu in ie hat auch fol-
gende betroffen, denen noch ein mittelh. iu gebührt: vier
(ignis) onghehier (immanis) dier (carus) stieren (gubernare)
lieden (hominibus) bedieden (significare) auf hier, dieren,
scieden reimend. -- 3) unorganisch ist das den ablaut
verwirrende ie in hief (sustulit) besief (intellexit) wies
(crevit) wiessc (lavavit) etc. statt des mittelh. uo; mehr
hiervon bei der conj. -- 4) diese wird auch beeinträch-
tigt durch das ie, welches in plien (solere) sien (videre)
beghien (confiteri) gescien (fieri) spien (investigare) aus
syncope der guttur. hervorgeht; alle reimen auf vlien
(fugere) bien (apes). Hierher gehören weiter tien (de-
cem) niet (nihil) iet (aliquid) vie (pecus); lien (fateri)
stammt aus liden, aber liet (fatetur) reimt auf riet
(Rein. 374.) folglich auf liet (sivit); die sprache kennt

I. mittelniederländiſche vocale.
doghet (virtus) verhoghen (exhilarare) dor (porta) cor
(electio) ſcoren (rumpere) ſcorde oder ſcôrde (laceravit,
lacerabatur) jode (judaeus) rode (canis) inzwiſchen zei-
gen die hſſ. neben dieſem o in denſelben wörtern bald
eu bald ue, z. b. Maerl. 2, 132. 178. lieſt man den reim
jeuden:reuden, 196. 314. 367. jueden:rueden; 2, 61.
doghet:verhoghet, 2, 139. deughet:verheughet, 1, 233.
dueghet:jueghet; 2, 152. ſcuerde und ſceurde hinterein-
ander; Huyd. op St. 2, 17. erklärt beide, eu und ue,
für in der ausſprache zuſ. fallend. Offenbar iſt aber die
eine ſchreibung, nämlich ue, ganz verwerflich, wie
ſchon aus dem neuniederl. eu (und nicht ue) folgt, das
auch andere frühere o vertritt, z. b neus, reus (mittel-
niederl. noſe, roſe = nëſe, rëſe). Die hentige ausſprache
dieſes eu, nämlich ö, wage ich nicht für jenes alte o,
eu, anzunehmen. Kurz ſcheint mir der laut in jedem
fall und ſchon deswegen gibt ihm das diphthong. eu
ein falſches anſehen. Vom triphthong. êu ganz ver-
ſchieden.

(IE) häufiger doppellaut, welcher 1) meiſtens mit
dem mittelh. ie übereinſtimmt, beiſpiele: knie (genu)
niemen (nemo) vlien (fugere) dienen (ſervire) hiet (vo-
cabatur) liet (ſinebat) miede (munnus) riep (vocabat) liep.
ſliep. viel (cadebat) bier (cereviſia) vier (quatuor) dier (ani-
mal) hier (hic) lief (carus) dief (fur) dierne (famula Maerl.
3, 341.) vrieſen (friſones) verlies (jactura) vliet (fluentum)
vlieten (fluere) liegen (mentiri) etc. Seltnere dem mittelh.
mangelnde wörter ſind:lier (gena, altn. hlêr) miere (formica
altn. maur) ſnieme (ſubito, alth. ſniumo) ries (ſtultus)
brieſſcen (rugire) lieſſcen (Maerl. 1, 452.) — 2) die fort-
ſchreitende verwandlung der alten iu in ie hat auch fol-
gende betroffen, denen noch ein mittelh. iu gebührt: vier
(ignis) onghehier (immanis) dier (carus) ſtieren (gubernare)
lieden (hominibus) bedieden (ſignificare) auf hier, dieren,
ſcieden reimend. — 3) unorganiſch iſt das den ablaut
verwirrende ie in hief (ſuſtulit) beſief (intellexit) wies
(crevit) wieſſc (lavavit) etc. ſtatt des mittelh. uo; mehr
hiervon bei der conj. — 4) dieſe wird auch beeinträch-
tigt durch das ie, welches in plien (ſolere) ſien (videre)
beghien (confiteri) geſcien (fieri) ſpien (inveſtigare) aus
ſyncope der guttur. hervorgeht; alle reimen auf vlien
(fugere) bien (apes). Hierher gehören weiter tien (de-
cem) niet (nihil) iet (aliquid) vie (pecus); lien (fateri)
ſtammt aus liden, aber liet (fatetur) reimt auf riet
(Rein. 374.) folglich auf liet (ſivit); die ſprache kennt

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[480/0506] I. mittelniederländiſche vocale. doghet (virtus) verhoghen (exhilarare) dor (porta) cor (electio) ſcoren (rumpere) ſcorde oder ſcôrde (laceravit, lacerabatur) jode (judaeus) rode (canis) inzwiſchen zei- gen die hſſ. neben dieſem o in denſelben wörtern bald eu bald ue, z. b. Maerl. 2, 132. 178. lieſt man den reim jeuden:reuden, 196. 314. 367. jueden:rueden; 2, 61. doghet:verhoghet, 2, 139. deughet:verheughet, 1, 233. dueghet:jueghet; 2, 152. ſcuerde und ſceurde hinterein- ander; Huyd. op St. 2, 17. erklärt beide, eu und ue, für in der ausſprache zuſ. fallend. Offenbar iſt aber die eine ſchreibung, nämlich ue, ganz verwerflich, wie ſchon aus dem neuniederl. eu (und nicht ue) folgt, das auch andere frühere o vertritt, z. b neus, reus (mittel- niederl. noſe, roſe = nëſe, rëſe). Die hentige ausſprache dieſes eu, nämlich ö, wage ich nicht für jenes alte o, eu, anzunehmen. Kurz ſcheint mir der laut in jedem fall und ſchon deswegen gibt ihm das diphthong. eu ein falſches anſehen. Vom triphthong. êu ganz ver- ſchieden. (IE) häufiger doppellaut, welcher 1) meiſtens mit dem mittelh. ie übereinſtimmt, beiſpiele: knie (genu) niemen (nemo) vlien (fugere) dienen (ſervire) hiet (vo- cabatur) liet (ſinebat) miede (munnus) riep (vocabat) liep. ſliep. viel (cadebat) bier (cereviſia) vier (quatuor) dier (ani- mal) hier (hic) lief (carus) dief (fur) dierne (famula Maerl. 3, 341.) vrieſen (friſones) verlies (jactura) vliet (fluentum) vlieten (fluere) liegen (mentiri) etc. Seltnere dem mittelh. mangelnde wörter ſind:lier (gena, altn. hlêr) miere (formica altn. maur) ſnieme (ſubito, alth. ſniumo) ries (ſtultus) brieſſcen (rugire) lieſſcen (Maerl. 1, 452.) — 2) die fort- ſchreitende verwandlung der alten iu in ie hat auch fol- gende betroffen, denen noch ein mittelh. iu gebührt: vier (ignis) onghehier (immanis) dier (carus) ſtieren (gubernare) lieden (hominibus) bedieden (ſignificare) auf hier, dieren, ſcieden reimend. — 3) unorganiſch iſt das den ablaut verwirrende ie in hief (ſuſtulit) beſief (intellexit) wies (crevit) wieſſc (lavavit) etc. ſtatt des mittelh. uo; mehr hiervon bei der conj. — 4) dieſe wird auch beeinträch- tigt durch das ie, welches in plien (ſolere) ſien (videre) beghien (confiteri) geſcien (fieri) ſpien (inveſtigare) aus ſyncope der guttur. hervorgeht; alle reimen auf vlien (fugere) bien (apes). Hierher gehören weiter tien (de- cem) niet (nihil) iet (aliquid) vie (pecus); lien (fateri) ſtammt aus liden, aber liet (fatetur) reimt auf riet (Rein. 374.) folglich auf liet (ſivit); die ſprache kennt

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 480. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/506>, abgerufen am 25.11.2024.