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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. mittelhochdeutsche vocale.
st. getregede, saelede, fröuwede; niemahls getragde,
salde, froude. -- Wie konnten aber in fällen lange
vor dem 13ten jahrh. bestehender syncopen nament-
lich im schwachen Inf., neue mittelh. umlaute ent-
springen? z. b. bewaeren, hoeren, ruemen, triuten,
küssen, da doch das spätere alth. mit bereits ausge-
worfnem i, piwaren, horen, ruomen, trauten, kussen
(st. piwarjan, horjan, ruomjan, trautjan, kussjan) überlie-
ferte? Um dies zu begreifen wird man annehmen
müßen, daß die vom 10ten -- 13ten jahrh. neu einge-
führten umlaute zwar zuerst in wörtern entstanden,
deren endungs-i noch thätig war, daß sie aber nach-
her zufolge äußerer analogie auf alle fälle des alten
umlauts e erstreckt wurden, namentlich auf den des
ausgestoßenen i. Ebenso bestimmte man die rückum-
laute horte, ruomte, traute, kuste nach der analogie
von kante. Sichere, genau geschriebene denkmähler
aus dieser zwischenzeit würden uns wohl über das
aufkeimen solcher durch kein wirkliches i der flexion
begründeten umlaute den zweifel benehmen. Als die
sprache den wahren grund des umlauts verlernte, fieng
sie an, ihn schwankend zu handhaben und fehlerhaft
auszubreiten. Zum deutlichen beispiel gereichen die
unorg. erscheinungen des neuh. umlauts und rückum-
lauts im verhältnis des adj. und adv.; die mittelh.
herte (durus) harte (duriter) feste (firmus) faste (firmi-
ter) lauten:hart (adj. und adv.) fest (adj. und adv.
denn das gebliebene fast gilt für ferme); in hart wurde
der rückumlaut des adv. auch fürs adj., in fest der
umlaut des adj. auch fürs adv. verwendet.
4) das umlautwirkende i muß unmittelbar an die wahre
wurzel rühren oder ausgeworfen daran gerührt haben
(mit andern worten: die silbe nach der wurzel begin-
nen
). Folgen erst andere buchstaben und hinterdrein
ein solches i, so kann es dem wurzelvocal an sich
nichts anhaben, der zwischengetretene cons. hindert
es, auf die wurzel einzufließen; daher namentlich
weder -nisse, -lin, -leich, -lich, -reich umlaut der
wurzel zeugen, noch dreisilbige wörter, deren e zwei-
ter silbe kein ursprüngliches i war, wenn schon in
der dritten ein e = i erfolgt, umlauten vgl. vancnisse,
(M. S. 2, 229b) manlich (Parc. 4b 41c) wancliche (a.
Tit. 91.) guotleiche (Parc. 2c) lauterleich (a. Tit. 41. 83.)
jamerec (Wigal. 43.) magetleich (a. Tit. 31. 50.) vater-
lich, burgaere, pfandaere (Parc. 144a) suochaere (50a)
I. mittelhochdeutſche vocale.
ſt. getregede, ſælede, fröuwede; niemahls getragde,
ſâlde, froude. — Wie konnten aber in fällen lange
vor dem 13ten jahrh. beſtehender ſyncopen nament-
lich im ſchwachen Inf., neue mittelh. umlaute ent-
ſpringen? z. b. bewæren, hœren, ruemen, triuten,
küſſen, da doch das ſpätere alth. mit bereits ausge-
worfnem i, piwâren, hôren, ruomen, trûten, kuſſen
(ſt. piwârjan, hôrjan, ruomjan, trûtjan, kuſſjan) überlie-
ferte? Um dies zu begreifen wird man annehmen
müßen, daß die vom 10ten — 13ten jahrh. neu einge-
führten umlaute zwar zuerſt in wörtern entſtanden,
deren endungs-i noch thätig war, daß ſie aber nach-
her zufolge äußerer analogie auf alle fälle des alten
umlauts e erſtreckt wurden, namentlich auf den des
ausgeſtoßenen i. Ebenſo beſtimmte man die rückum-
laute hôrte, ruomte, trûte, kuſte nach der analogie
von kante. Sichere, genau geſchriebene denkmähler
aus dieſer zwiſchenzeit würden uns wohl über das
aufkeimen ſolcher durch kein wirkliches i der flexion
begründeten umlaute den zweifel benehmen. Als die
ſprache den wahren grund des umlauts verlernte, fieng
ſie an, ihn ſchwankend zu handhaben und fehlerhaft
auszubreiten. Zum deutlichen beiſpiel gereichen die
unorg. erſcheinungen des neuh. umlauts und rückum-
lauts im verhältnis des adj. und adv.; die mittelh.
herte (durus) harte (duriter) feſte (firmus) faſte (firmi-
ter) lauten:hart (adj. und adv.) feſt (adj. und adv.
denn das gebliebene faſt gilt für ferme); in hart wurde
der rückumlaut des adv. auch fürs adj., in feſt der
umlaut des adj. auch fürs adv. verwendet.
4) das umlautwirkende i muß unmittelbar an die wahre
wurzel rühren oder ausgeworfen daran gerührt haben
(mit andern worten: die ſilbe nach der wurzel begin-
nen
). Folgen erſt andere buchſtaben und hinterdrein
ein ſolches i, ſo kann es dem wurzelvocal an ſich
nichts anhaben, der zwiſchengetretene conſ. hindert
es, auf die wurzel einzufließen; daher namentlich
weder -niſſe, -lìn, -lîch, -lich, -rîch umlaut der
wurzel zeugen, noch dreiſilbige wörter, deren e zwei-
ter ſilbe kein urſprüngliches i war, wenn ſchon in
der dritten ein e = i erfolgt, umlauten vgl. vancniſſe,
(M. S. 2, 229b) manlìch (Parc. 4b 41c) wanclìche (a.
Tit. 91.) guotlîche (Parc. 2c) lûterlîch (a. Tit. 41. 83.)
jâmerec (Wigal. 43.) magetlîch (a. Tit. 31. 50.) vater-
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[363/0389] I. mittelhochdeutſche vocale. ſt. getregede, ſælede, fröuwede; niemahls getragde, ſâlde, froude. — Wie konnten aber in fällen lange vor dem 13ten jahrh. beſtehender ſyncopen nament- lich im ſchwachen Inf., neue mittelh. umlaute ent- ſpringen? z. b. bewæren, hœren, ruemen, triuten, küſſen, da doch das ſpätere alth. mit bereits ausge- worfnem i, piwâren, hôren, ruomen, trûten, kuſſen (ſt. piwârjan, hôrjan, ruomjan, trûtjan, kuſſjan) überlie- ferte? Um dies zu begreifen wird man annehmen müßen, daß die vom 10ten — 13ten jahrh. neu einge- führten umlaute zwar zuerſt in wörtern entſtanden, deren endungs-i noch thätig war, daß ſie aber nach- her zufolge äußerer analogie auf alle fälle des alten umlauts e erſtreckt wurden, namentlich auf den des ausgeſtoßenen i. Ebenſo beſtimmte man die rückum- laute hôrte, ruomte, trûte, kuſte nach der analogie von kante. Sichere, genau geſchriebene denkmähler aus dieſer zwiſchenzeit würden uns wohl über das aufkeimen ſolcher durch kein wirkliches i der flexion begründeten umlaute den zweifel benehmen. Als die ſprache den wahren grund des umlauts verlernte, fieng ſie an, ihn ſchwankend zu handhaben und fehlerhaft auszubreiten. Zum deutlichen beiſpiel gereichen die unorg. erſcheinungen des neuh. umlauts und rückum- lauts im verhältnis des adj. und adv.; die mittelh. herte (durus) harte (duriter) feſte (firmus) faſte (firmi- ter) lauten:hart (adj. und adv.) feſt (adj. und adv. denn das gebliebene faſt gilt für ferme); in hart wurde der rückumlaut des adv. auch fürs adj., in feſt der umlaut des adj. auch fürs adv. verwendet. 4) das umlautwirkende i muß unmittelbar an die wahre wurzel rühren oder ausgeworfen daran gerührt haben (mit andern worten: die ſilbe nach der wurzel begin- nen). Folgen erſt andere buchſtaben und hinterdrein ein ſolches i, ſo kann es dem wurzelvocal an ſich nichts anhaben, der zwiſchengetretene conſ. hindert es, auf die wurzel einzufließen; daher namentlich weder -niſſe, -lìn, -lîch, -lich, -rîch umlaut der wurzel zeugen, noch dreiſilbige wörter, deren e zwei- ter ſilbe kein urſprüngliches i war, wenn ſchon in der dritten ein e = i erfolgt, umlauten vgl. vancniſſe, (M. S. 2, 229b) manlìch (Parc. 4b 41c) wanclìche (a. Tit. 91.) guotlîche (Parc. 2c) lûterlîch (a. Tit. 41. 83.) jâmerec (Wigal. 43.) magetlîch (a. Tit. 31. 50.) vater- lìch, burgære, pfandære (Parc. 144a) ſuochære (50a)

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/389>, abgerufen am 25.11.2024.