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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. mittelhochdeutsche vocale.
hat einen tonlosen vocal zweiter silbe, der kurze einen
stummen hinter sich, er verschmilzt damit gleichsam
zu einer silbe. Die arten stumpfer und klingender
reime im mittelh. finden sich oben s. 17. 18. bezeich-
net. In einsilbigen stumpfreimenden wörtern mag der
vocal lang oder kurz, von einem oder mehrern cons.
begleitet seyn. In zweisilbigen klingenden fordert aber
die erste silbe entw. langen voc. ohne alle oder mit
einfacher consonanz oder kurzen mit doppelter (po-
sition). Welche reime klingen, welche stumpf sind,
ergibt in erzählenden gedichten die silbenzählung,
leichter in strophischen theils die ausschließende einer
von beiden arten, theils die verschränkung klingender
und stumpser reime, welche stets im verhältniß bei-
der stollen und ganzer strophen wiederkehrt. Dies ge-
setz wird von den meisten dichtern unverbrüchlich
gehalten und nur von einigen zuweilen verletzt. Kai-
ser Heinrich im ersten liede der sammlung scheint es
zu verfehlen; ein beweis, daß er sich keiner frem-
den hülfe bediente. Bei den frühsten meistern (z. b.
Reimar d. a.) haben die stumpfen reime großes über-
gewicht, auf seiten oft kein klingender; der ganze
Winsbeke, Winsbekin ohne einen einzigen. Als ge-
gensatz vergleiche man die menge klingender reime
in Canzlers und Conrads liedern.
3) der vollständig entfaltete umlaut veranlaßt nähere be-
trachtungen. Die zeugerische endung i, ei ist (mit aus-
nahme der bildungen -inc, -ein -ic, -isch) in ein
unbetontes e abgeschwächt, in dessen aussprache sich
schwerlich e von e unterscheiden läßt *). Gleichwohl
vermag die ursprünglich a, o, u, kurz ein andrer
voc. als i, ei gewesene endung e durchaus keinen
umlaut herbeizuführen **); an sich scheinen beiderlei
endungen gleich unkräftig und wirken doch so ver-
schieden. Hieraus folgere ich: die ein- und durch-
führung der umlaute muß in etwas früherer zeit ge-
schehen seyn, wo noch die endung i, ei, e lebendige
*) Ob die flexion -iu zuweilen umlaut verursache? unten bei
der declin.
**) Hierher auch der fall, wo ein wirklich vorhandnes i kei-
nen umlaut zeugt, weil es unorganisch für e (früheres a)
stehet, bluotic, manigem Nib. 4582. traurigen Nib. 768. st.
bluotec, manegem, trauregen (vgl. oben 76. 77.)
I. mittelhochdeutſche vocale.
hat einen tonloſen vocal zweiter ſilbe, der kurze einen
ſtummen hinter ſich, er verſchmilzt damit gleichſam
zu einer ſilbe. Die arten ſtumpfer und klingender
reime im mittelh. finden ſich oben ſ. 17. 18. bezeich-
net. In einſilbigen ſtumpfreimenden wörtern mag der
vocal lang oder kurz, von einem oder mehrern conſ.
begleitet ſeyn. In zweiſilbigen klingenden fordert aber
die erſte ſilbe entw. langen voc. ohne alle oder mit
einfacher conſonanz oder kurzen mit doppelter (po-
ſition). Welche reime klingen, welche ſtumpf ſind,
ergibt in erzählenden gedichten die ſilbenzählung,
leichter in ſtrophiſchen theils die ausſchließende einer
von beiden arten, theils die verſchränkung klingender
und ſtumpſer reime, welche ſtets im verhältniß bei-
der ſtollen und ganzer ſtrophen wiederkehrt. Dies ge-
ſetz wird von den meiſten dichtern unverbrüchlich
gehalten und nur von einigen zuweilen verletzt. Kai-
ſer Heinrich im erſten liede der ſammlung ſcheint es
zu verfehlen; ein beweis, daß er ſich keiner frem-
den hülfe bediente. Bei den frühſten meiſtern (z. b.
Reimar d. a.) haben die ſtumpfen reime großes über-
gewicht, auf ſeiten oft kein klingender; der ganze
Winsbeke, Winsbekin ohne einen einzigen. Als ge-
genſatz vergleiche man die menge klingender reime
in Canzlers und Conrads liedern.
3) der vollſtändig entfaltete umlaut veranlaßt nähere be-
trachtungen. Die zeugeriſche endung i, î iſt (mit aus-
nahme der bildungen -inc, -în -ic, -iſch) in ein
unbetontes e abgeſchwächt, in deſſen ausſprache ſich
ſchwerlich ë von e unterſcheiden läßt *). Gleichwohl
vermag die urſprünglich a, o, u, kurz ein andrer
voc. als i, î geweſene endung e durchaus keinen
umlaut herbeizuführen **); an ſich ſcheinen beiderlei
endungen gleich unkräftig und wirken doch ſo ver-
ſchieden. Hieraus folgere ich: die ein- und durch-
führung der umlaute muß in etwas früherer zeit ge-
ſchehen ſeyn, wo noch die endung i, î, ë lebendige
*) Ob die flexion -iu zuweilen umlaut verurſache? unten bei
der declin.
**) Hierher auch der fall, wo ein wirklich vorhandnes i kei-
nen umlaut zeugt, weil es unorganiſch für e (früheres a)
ſtehet, bluotic, manigem Nib. 4582. trûrigen Nib. 768. ſt.
bluotec, manegem, trûregen (vgl. oben 76. 77.)
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[361/0387] I. mittelhochdeutſche vocale. hat einen tonloſen vocal zweiter ſilbe, der kurze einen ſtummen hinter ſich, er verſchmilzt damit gleichſam zu einer ſilbe. Die arten ſtumpfer und klingender reime im mittelh. finden ſich oben ſ. 17. 18. bezeich- net. In einſilbigen ſtumpfreimenden wörtern mag der vocal lang oder kurz, von einem oder mehrern conſ. begleitet ſeyn. In zweiſilbigen klingenden fordert aber die erſte ſilbe entw. langen voc. ohne alle oder mit einfacher conſonanz oder kurzen mit doppelter (po- ſition). Welche reime klingen, welche ſtumpf ſind, ergibt in erzählenden gedichten die ſilbenzählung, leichter in ſtrophiſchen theils die ausſchließende einer von beiden arten, theils die verſchränkung klingender und ſtumpſer reime, welche ſtets im verhältniß bei- der ſtollen und ganzer ſtrophen wiederkehrt. Dies ge- ſetz wird von den meiſten dichtern unverbrüchlich gehalten und nur von einigen zuweilen verletzt. Kai- ſer Heinrich im erſten liede der ſammlung ſcheint es zu verfehlen; ein beweis, daß er ſich keiner frem- den hülfe bediente. Bei den frühſten meiſtern (z. b. Reimar d. a.) haben die ſtumpfen reime großes über- gewicht, auf ſeiten oft kein klingender; der ganze Winsbeke, Winsbekin ohne einen einzigen. Als ge- genſatz vergleiche man die menge klingender reime in Canzlers und Conrads liedern. 3) der vollſtändig entfaltete umlaut veranlaßt nähere be- trachtungen. Die zeugeriſche endung i, î iſt (mit aus- nahme der bildungen -inc, -în -ic, -iſch) in ein unbetontes e abgeſchwächt, in deſſen ausſprache ſich ſchwerlich ë von e unterſcheiden läßt *). Gleichwohl vermag die urſprünglich a, o, u, kurz ein andrer voc. als i, î geweſene endung e durchaus keinen umlaut herbeizuführen **); an ſich ſcheinen beiderlei endungen gleich unkräftig und wirken doch ſo ver- ſchieden. Hieraus folgere ich: die ein- und durch- führung der umlaute muß in etwas früherer zeit ge- ſchehen ſeyn, wo noch die endung i, î, ë lebendige *) Ob die flexion -iu zuweilen umlaut verurſache? unten bei der declin. **) Hierher auch der fall, wo ein wirklich vorhandnes i kei- nen umlaut zeugt, weil es unorganiſch für e (früheres a) ſtehet, bluotic, manigem Nib. 4582. trûrigen Nib. 768. ſt. bluotec, manegem, trûregen (vgl. oben 76. 77.)

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/387>, abgerufen am 25.11.2024.