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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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II declination des infinitivs.

Gleichwohl gibt es bemerkenswerthe spuren eines
ausgestorbenen inf. praeteriti. Die verba zweiter ano-
malie haben nicht nur überall im inf. abgelauteten wur-
zelvocal, sondern auch im altn. sculu, munu die flexion
-u, statt -a (s. 926.) welchem sculu, munu ein goth.
sculun, munun entsprechen würde. Allein es heißt ga-
munan Luc. 1, 72. vitan Marc. 7, 24. kunnan Marc. 4,
11. Luc. 8, 10. Joh. 14, 5. nach deren analogie (und nach
den part. praes. aigands, ogands etc.) ich s. 851. die
übrigen unbelegbaren inf. motan, skulan etc. aufgestellt
habe. Altnord. werden sogar den schwachen praet. skyldi,
mundi parallele inf. skyldu, mundu gefunden (Rask §. 251.)
z. b. edd. saem. 242. 243.; vielleicht stehen zuweilen re-
gelmäßige starke praeterita infinitivisch, wie foru (ivisse)
siodhu (stetisse) vgl. Egilssaga p. 104. --

Gesetzt der inf. wäre ein eigentlicher acc., der sich
dann auch nominativisch als substantiv brauchen ließe
(wovon näher in der syntax), so fragt es sich nach dem
entsprechenden gen. und dativ? Diese beiden casus sind
in der alt- und mittelh., der dativ in der alts., angels.
und mittelniederl. sprache häufig anzutreffen, zweifel-
haft im goth., den nordischen mangeln sie gänzlich.
1) die alth. form lautet für den gen. -annes, für den
dat. -anne, welches sich in den schw. conj. zu -jannes
(-jennes, -ennes) -onnes, ennes; -janne (-jenne, -enne)
-onne-enne gestaltet [keine vocalkürzung -onnes, -onne;
ennes, enne, da noch N. ausdrücklich hier o und e
schreibt] z. b. plasannes, choufennes, toponnes, vraken-
nes; varanne, teilenne, machonne, fisconne, sca-
menne etc. -- 2) alts. dativ: faranne, bleidzeanne, adom-
jenne, tholonne etc. -- 3) angels. faranne, recenne, ge-
fremmanne etc. -- 4) mittelh. gilt zwar noch -ennes,
-enne (mit tonlosem e, sonst reimte wohl -enne klin-
gend und würde auf denne, tenne, henne zu reimen
gewagt) wenn lange wurzelsilbe vorhergeht, z. b. mei-
dennes, vindennes, scheltennes, weinennes; waltenne,
bietenne, machenne, tuonne etc. Bei kurzer wurzel-
silbe wird e stumm (also auswerflich) und n für nn ge-
setzt, also -enes, -ene z. b. lesene, ligene, sagene, ge-
bene, dolne (a. Tit. 152.) werne etc. Freilich scheint
nn nach tonlosem e schwer auszusprechen (vragenne,
wie vragende, stärker als sagene, sagende, schwächer als
vragenne, vragende) ist aber unentbehrlich, da auf bloß
einfaches n folgendes e wegfallen müste, d. h. für mei-
denes, waltene würde nothwendig meidens, walten ste-

II declination des infinitivs.

Gleichwohl gibt es bemerkenswerthe ſpuren eines
ausgeſtorbenen inf. praeteriti. Die verba zweiter ano-
malie haben nicht nur überall im inf. abgelauteten wur-
zelvocal, ſondern auch im altn. ſculu, munu die flexion
-u, ſtatt -a (ſ. 926.) welchem ſculu, munu ein goth.
ſculun, munun entſprechen würde. Allein es heißt ga-
munan Luc. 1, 72. vitan Marc. 7, 24. kunnan Marc. 4,
11. Luc. 8, 10. Joh. 14, 5. nach deren analogie (und nach
den part. praeſ. áigands, ôgands etc.) ich ſ. 851. die
übrigen unbelegbaren inf. môtan, ſkulan etc. aufgeſtellt
habe. Altnord. werden ſogar den ſchwachen praet. ſkyldi,
mundi parallele inf. ſkyldu, mundu gefunden (Raſk §. 251.)
z. b. edd. ſæm. 242. 243.; vielleicht ſtehen zuweilen re-
gelmäßige ſtarke praeterita infinitiviſch, wie fòru (iviſſe)
ſiôdhu (ſtetiſſe) vgl. Egilsſaga p. 104. —

Geſetzt der inf. wäre ein eigentlicher acc., der ſich
dann auch nominativiſch als ſubſtantiv brauchen ließe
(wovon näher in der ſyntax), ſo fragt es ſich nach dem
entſprechenden gen. und dativ? Dieſe beiden caſus ſind
in der alt- und mittelh., der dativ in der altſ., angelſ.
und mittelniederl. ſprache häufig anzutreffen, zweifel-
haft im goth., den nordiſchen mangeln ſie gänzlich.
1) die alth. form lautet für den gen. -annes, für den
dat. -anne, welches ſich in den ſchw. conj. zu -jannes
(-jennes, -ennes) -ônnes, ênnes; -janne (-jenne, -enne)
-ônne-ênne geſtaltet [keine vocalkürzung -onnes, -onne;
ennes, enne, da noch N. ausdrücklich hier ô und ê
ſchreibt] z. b. plâſannes, choufennes, topônnes, vrâkên-
nes; varanne, teilenne, machônne, fiſcônne, ſca-
mênne etc. — 2) altſ. dativ: faranne, blîdzeanne, adôm-
jenne, tholônne etc. — 3) angelſ. faranne, rêcenne, ge-
fremmanne etc. — 4) mittelh. gilt zwar noch -ennes,
-enne (mit tonloſem e, ſonſt reimte wohl -ènne klin-
gend und würde auf denne, tenne, henne zu reimen
gewagt) wenn lange wurzelſilbe vorhergeht, z. b. mî-
dennes, vindennes, ſchëltennes, weinennes; waltenne,
bietenne, machenne, tuonne etc. Bei kurzer wurzel-
ſilbe wird e ſtumm (alſo auswerflich) und n für nn ge-
ſetzt, alſo -enes, -ene z. b. lëſene, ligene, ſagene, gë-
bene, dolne (a. Tit. 152.) wërne etc. Freilich ſcheint
nn nach tonloſem e ſchwer auszuſprechen (vrâgenne,
wie vrâgende, ſtärker als ſagene, ſagende, ſchwächer als
vrâgènne, vrâgènde) iſt aber unentbehrlich, da auf bloß
einfaches n folgendes e wegfallen müſte, d. h. für mî-
denes, waltene würde nothwendig mîdens, walten ſte-

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[1021/1047] II declination des infinitivs. Gleichwohl gibt es bemerkenswerthe ſpuren eines ausgeſtorbenen inf. praeteriti. Die verba zweiter ano- malie haben nicht nur überall im inf. abgelauteten wur- zelvocal, ſondern auch im altn. ſculu, munu die flexion -u, ſtatt -a (ſ. 926.) welchem ſculu, munu ein goth. ſculun, munun entſprechen würde. Allein es heißt ga- munan Luc. 1, 72. vitan Marc. 7, 24. kunnan Marc. 4, 11. Luc. 8, 10. Joh. 14, 5. nach deren analogie (und nach den part. praeſ. áigands, ôgands etc.) ich ſ. 851. die übrigen unbelegbaren inf. môtan, ſkulan etc. aufgeſtellt habe. Altnord. werden ſogar den ſchwachen praet. ſkyldi, mundi parallele inf. ſkyldu, mundu gefunden (Raſk §. 251.) z. b. edd. ſæm. 242. 243.; vielleicht ſtehen zuweilen re- gelmäßige ſtarke praeterita infinitiviſch, wie fòru (iviſſe) ſiôdhu (ſtetiſſe) vgl. Egilsſaga p. 104. — Geſetzt der inf. wäre ein eigentlicher acc., der ſich dann auch nominativiſch als ſubſtantiv brauchen ließe (wovon näher in der ſyntax), ſo fragt es ſich nach dem entſprechenden gen. und dativ? Dieſe beiden caſus ſind in der alt- und mittelh., der dativ in der altſ., angelſ. und mittelniederl. ſprache häufig anzutreffen, zweifel- haft im goth., den nordiſchen mangeln ſie gänzlich. 1) die alth. form lautet für den gen. -annes, für den dat. -anne, welches ſich in den ſchw. conj. zu -jannes (-jennes, -ennes) -ônnes, ênnes; -janne (-jenne, -enne) -ônne-ênne geſtaltet [keine vocalkürzung -onnes, -onne; ennes, enne, da noch N. ausdrücklich hier ô und ê ſchreibt] z. b. plâſannes, choufennes, topônnes, vrâkên- nes; varanne, teilenne, machônne, fiſcônne, ſca- mênne etc. — 2) altſ. dativ: faranne, blîdzeanne, adôm- jenne, tholônne etc. — 3) angelſ. faranne, rêcenne, ge- fremmanne etc. — 4) mittelh. gilt zwar noch -ennes, -enne (mit tonloſem e, ſonſt reimte wohl -ènne klin- gend und würde auf denne, tenne, henne zu reimen gewagt) wenn lange wurzelſilbe vorhergeht, z. b. mî- dennes, vindennes, ſchëltennes, weinennes; waltenne, bietenne, machenne, tuonne etc. Bei kurzer wurzel- ſilbe wird e ſtumm (alſo auswerflich) und n für nn ge- ſetzt, alſo -enes, -ene z. b. lëſene, ligene, ſagene, gë- bene, dolne (a. Tit. 152.) wërne etc. Freilich ſcheint nn nach tonloſem e ſchwer auszuſprechen (vrâgenne, wie vrâgende, ſtärker als ſagene, ſagende, ſchwächer als vrâgènne, vrâgènde) iſt aber unentbehrlich, da auf bloß einfaches n folgendes e wegfallen müſte, d. h. für mî- denes, waltene würde nothwendig mîdens, walten ſte-

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 1021. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/1047>, abgerufen am 23.11.2024.