Der Inhalt der einzelnen Hallucinationen richtet sich in der Regel nach der eben vorhandenen Stimmung und Gedankenrichtung; *) auch in ihnen ist der Unterschied der heitern und traurigen Erregung ziemlich durchgeführt, und nicht viele Sinnendelirien sind von ganz indifferenter Beschaffenheit. Der Melancholische hört häufig Schimpf- worte, Drohungen oder Stimmen, die ihn zu einer grässlichen That auffordern, dem Maniacus kommen durch die Hallucinationen Bestä- tigungen seiner gehobenen Stimmung zu, knrz der herrschende Affect (Furcht, Sehnsucht, Freude) bestimmt hier die Modalität der Phan- tasmen. In prognostischer Beziehung ist dieser Umstand wichtig: die Beobachtung lehrt, dass die Hallucinationen, welche auf diese Weise auf einem gegebenen krankhaft affectartigen Zustande beruhen, auch mit diesem wieder zu schwinden fähig sind, während die selb- ständigen, nicht mit Gemüthsbewegungen zusammenhängenden Hallu- cinationen nur sehr selten eine wirkliche Heilung zulassen, und meist als wesentliche Elemente in den Zustand anhaltender Verrücktheit eingehen.
In Zuständen grosser Abspannung, nach langen Schmerzen, vor dem Tode u. dergl., beobachtet man häufig heitere, glänzende Hallu- cinationen; verschiedene andere organische Zustände, Genitalienrei- zung, Speisebedürfniss u. dergl., bestimmen in anderer Weise den Inhalt der Sinnendelirien, die nun die adäquaten Bilder, Töne etc. vorführen.
Bekannt ist die merkwürdige Specifität gewisser Hallucinationen nach bestimmten vorausgegangenen Ursachen. So sind dem Säufer- wahnsinn die Visionen von Thieren, Mäusen, Ratten, Vögeln etc., sehr gewöhnlich; man könnte geneigt sein, dieselben für phantastische Umbildungen schwarzer Scotome zu halten, wenn nicht, auch nach unsern Beobachtungen, häufig auch grosse Thiere, gleichfalls in gan- zen Heerden, Pferde, Hunde, "eine Million Ochsen" u. dergl. gesehen würden. Auch die Phantasmen nach Einnehmen der Datura, der Belladonna, ganz besonders aber des Hachich, haben eine gewisse Specifität.
Sehr gewöhnlich ist ein religiöser Inhalt der Hallucinationen. Dem Phantasten offenbart sich sein Göttliches in Gebilden der Phan-
*) Shakespeare lässt auch den Macbeth, der den Dolch packen will, sagen: -- -- -- Es ist nichts da, Es is der blutge Vorsatz, der mein Auge So täuscht.
Inhalt der Hallucinationen.
§. 50.
Der Inhalt der einzelnen Hallucinationen richtet sich in der Regel nach der eben vorhandenen Stimmung und Gedankenrichtung; *) auch in ihnen ist der Unterschied der heitern und traurigen Erregung ziemlich durchgeführt, und nicht viele Sinnendelirien sind von ganz indifferenter Beschaffenheit. Der Melancholische hört häufig Schimpf- worte, Drohungen oder Stimmen, die ihn zu einer grässlichen That auffordern, dem Maniacus kommen durch die Hallucinationen Bestä- tigungen seiner gehobenen Stimmung zu, knrz der herrschende Affect (Furcht, Sehnsucht, Freude) bestimmt hier die Modalität der Phan- tasmen. In prognostischer Beziehung ist dieser Umstand wichtig: die Beobachtung lehrt, dass die Hallucinationen, welche auf diese Weise auf einem gegebenen krankhaft affectartigen Zustande beruhen, auch mit diesem wieder zu schwinden fähig sind, während die selb- ständigen, nicht mit Gemüthsbewegungen zusammenhängenden Hallu- cinationen nur sehr selten eine wirkliche Heilung zulassen, und meist als wesentliche Elemente in den Zustand anhaltender Verrücktheit eingehen.
In Zuständen grosser Abspannung, nach langen Schmerzen, vor dem Tode u. dergl., beobachtet man häufig heitere, glänzende Hallu- cinationen; verschiedene andere organische Zustände, Genitalienrei- zung, Speisebedürfniss u. dergl., bestimmen in anderer Weise den Inhalt der Sinnendelirien, die nun die adäquaten Bilder, Töne etc. vorführen.
Bekannt ist die merkwürdige Specifität gewisser Hallucinationen nach bestimmten vorausgegangenen Ursachen. So sind dem Säufer- wahnsinn die Visionen von Thieren, Mäusen, Ratten, Vögeln etc., sehr gewöhnlich; man könnte geneigt sein, dieselben für phantastische Umbildungen schwarzer Scotome zu halten, wenn nicht, auch nach unsern Beobachtungen, häufig auch grosse Thiere, gleichfalls in gan- zen Heerden, Pferde, Hunde, „eine Million Ochsen“ u. dergl. gesehen würden. Auch die Phantasmen nach Einnehmen der Datura, der Belladonna, ganz besonders aber des Hachich, haben eine gewisse Specifität.
Sehr gewöhnlich ist ein religiöser Inhalt der Hallucinationen. Dem Phantasten offenbart sich sein Göttliches in Gebilden der Phan-
*) Shakespeare lässt auch den Macbeth, der den Dolch packen will, sagen: — — — Es ist nichts da, Es is der blutge Vorsatz, der mein Auge So täuscht.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbn="79"facs="#f0093"/><fwtype="header"place="top">Inhalt der Hallucinationen.</fw><lb/><divn="4"><head>§. 50.</head><lb/><p>Der <hirendition="#g">Inhalt</hi> der einzelnen Hallucinationen richtet sich in der<lb/>
Regel nach der eben vorhandenen Stimmung und Gedankenrichtung; <noteplace="foot"n="*)">Shakespeare lässt auch den Macbeth, der den Dolch packen will, sagen:<lb/><hirendition="#et">——— Es ist nichts da,</hi><lb/>
Es is der <hirendition="#g">blutge Vorsatz, der mein Auge<lb/>
So täuscht</hi>.</note><lb/>
auch in ihnen ist der Unterschied der heitern und traurigen Erregung<lb/>
ziemlich durchgeführt, und nicht viele Sinnendelirien sind von ganz<lb/>
indifferenter Beschaffenheit. Der Melancholische hört häufig Schimpf-<lb/>
worte, Drohungen oder Stimmen, die ihn zu einer grässlichen That<lb/>
auffordern, dem Maniacus kommen durch die Hallucinationen Bestä-<lb/>
tigungen seiner gehobenen Stimmung zu, knrz der herrschende Affect<lb/>
(Furcht, Sehnsucht, Freude) bestimmt hier die Modalität der Phan-<lb/>
tasmen. In prognostischer Beziehung ist dieser Umstand wichtig:<lb/>
die Beobachtung lehrt, dass die Hallucinationen, welche auf diese<lb/>
Weise auf einem gegebenen krankhaft affectartigen Zustande beruhen,<lb/>
auch mit diesem wieder zu schwinden fähig sind, während die selb-<lb/>
ständigen, nicht mit Gemüthsbewegungen zusammenhängenden Hallu-<lb/>
cinationen nur sehr selten eine wirkliche Heilung zulassen, und meist<lb/>
als wesentliche Elemente in den Zustand anhaltender Verrücktheit<lb/>
eingehen.</p><lb/><p>In Zuständen grosser Abspannung, nach langen Schmerzen, vor<lb/>
dem Tode u. dergl., beobachtet man häufig heitere, glänzende Hallu-<lb/>
cinationen; verschiedene andere organische Zustände, Genitalienrei-<lb/>
zung, Speisebedürfniss u. dergl., bestimmen in anderer Weise den<lb/>
Inhalt der Sinnendelirien, die nun die adäquaten Bilder, Töne etc.<lb/>
vorführen.</p><lb/><p>Bekannt ist die merkwürdige Specifität gewisser Hallucinationen<lb/>
nach bestimmten vorausgegangenen Ursachen. So sind dem Säufer-<lb/>
wahnsinn die Visionen von Thieren, Mäusen, Ratten, Vögeln etc.,<lb/>
sehr gewöhnlich; man könnte geneigt sein, dieselben für phantastische<lb/>
Umbildungen schwarzer Scotome zu halten, wenn nicht, auch nach<lb/>
unsern Beobachtungen, häufig auch grosse Thiere, gleichfalls in gan-<lb/>
zen Heerden, Pferde, Hunde, „eine Million Ochsen“ u. dergl. gesehen<lb/>
würden. Auch die Phantasmen nach Einnehmen der Datura, der<lb/>
Belladonna, ganz besonders aber des Hachich, haben eine gewisse<lb/>
Specifität.</p><lb/><p>Sehr gewöhnlich ist ein religiöser Inhalt der Hallucinationen.<lb/>
Dem Phantasten offenbart sich sein Göttliches in Gebilden der Phan-<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[79/0093]
Inhalt der Hallucinationen.
§. 50.
Der Inhalt der einzelnen Hallucinationen richtet sich in der
Regel nach der eben vorhandenen Stimmung und Gedankenrichtung; *)
auch in ihnen ist der Unterschied der heitern und traurigen Erregung
ziemlich durchgeführt, und nicht viele Sinnendelirien sind von ganz
indifferenter Beschaffenheit. Der Melancholische hört häufig Schimpf-
worte, Drohungen oder Stimmen, die ihn zu einer grässlichen That
auffordern, dem Maniacus kommen durch die Hallucinationen Bestä-
tigungen seiner gehobenen Stimmung zu, knrz der herrschende Affect
(Furcht, Sehnsucht, Freude) bestimmt hier die Modalität der Phan-
tasmen. In prognostischer Beziehung ist dieser Umstand wichtig:
die Beobachtung lehrt, dass die Hallucinationen, welche auf diese
Weise auf einem gegebenen krankhaft affectartigen Zustande beruhen,
auch mit diesem wieder zu schwinden fähig sind, während die selb-
ständigen, nicht mit Gemüthsbewegungen zusammenhängenden Hallu-
cinationen nur sehr selten eine wirkliche Heilung zulassen, und meist
als wesentliche Elemente in den Zustand anhaltender Verrücktheit
eingehen.
In Zuständen grosser Abspannung, nach langen Schmerzen, vor
dem Tode u. dergl., beobachtet man häufig heitere, glänzende Hallu-
cinationen; verschiedene andere organische Zustände, Genitalienrei-
zung, Speisebedürfniss u. dergl., bestimmen in anderer Weise den
Inhalt der Sinnendelirien, die nun die adäquaten Bilder, Töne etc.
vorführen.
Bekannt ist die merkwürdige Specifität gewisser Hallucinationen
nach bestimmten vorausgegangenen Ursachen. So sind dem Säufer-
wahnsinn die Visionen von Thieren, Mäusen, Ratten, Vögeln etc.,
sehr gewöhnlich; man könnte geneigt sein, dieselben für phantastische
Umbildungen schwarzer Scotome zu halten, wenn nicht, auch nach
unsern Beobachtungen, häufig auch grosse Thiere, gleichfalls in gan-
zen Heerden, Pferde, Hunde, „eine Million Ochsen“ u. dergl. gesehen
würden. Auch die Phantasmen nach Einnehmen der Datura, der
Belladonna, ganz besonders aber des Hachich, haben eine gewisse
Specifität.
Sehr gewöhnlich ist ein religiöser Inhalt der Hallucinationen.
Dem Phantasten offenbart sich sein Göttliches in Gebilden der Phan-
*) Shakespeare lässt auch den Macbeth, der den Dolch packen will, sagen:
— — — Es ist nichts da,
Es is der blutge Vorsatz, der mein Auge
So täuscht.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/93>, abgerufen am 03.03.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.