solcher Mahnung noch bedürfte! -- Ein solches Verhalten kommt namentlich bei Genesenen nach schwermüthigen und mässigeren tob- süchtigen Zuständen vor, weniger nach der Form des Wahnsinns, aus dem der Kranke gewöhnlich viel verworrenere Erinnerungen behält. Die Angabe eines Genesenen, von allen Vorgängen während des Irre- seins gar nichts mehr zu wissen, ist mit Vorsicht aufzunehmen, da auch genaue Erinnerungen oft aus Scham verschwiegen werden.
b. Falscher Inhalt der Gedanken. Wahnideen.
§. 39.
Mit dem Auftreten falscher Urtheile, die nicht mehr berichtigt werden können, wirklicher Delirien, wird die Geisteskrankheit, wenn sie anfangs nur ein Irresein in Gefühlen und Affecten war, zum Irre- sein der Intelligenz. Der falsche, d. h. mit der Aussenwelt und den früheren Erlebnissen des Individuums nicht mehr congruente Inhalt der Gedanken ergibt sich Anfangs ganz gewöhnlich auf die Weise, dass der Kranke, nach dem Causalitätsgesetze, seine Stimmungen und krankhaften Affecte sich zu erklären sucht (§. 18. 35.). Die allerverschiedensten äusseren Anlässe und Ereignisse und alle möglichen Erinnerungen seines eigenen Lebens können das mannig- faltigste Material dieser Erklärungsversuche abgeben, und der Zufall, die Bildungsstufe und die Lebensansichten des Individuums haben hier den grössten Einfluss. Dieselbe Stimmung, z. B. die in dem Abergläubischen den Wahn der Verhexung erregt, kann einem Andern die Ideen einer Verfolgung durch Freimaurer, einer Beeinträchtigung durch geheime magnetische Manipulationen u. dergl. suppeditiren. Von ganz besonderem Einflusse sowohl auf die Bildung solcher Wahnideen überhaupt, als auf ihren speciellen Inhalt sind alle Hallucinationen; sie sind so häufig, bieten ein so lebhaft aufgedrungenes und oft so constantes Material für Erklärungen dar, dass wir erfahrungsgemäss in ihnen den gewöhnlichen Ursprung der Wahnideen finden müssen (z. B. ein Gesichtshallucinant, der feurige Erscheinungen hat, glaubt sich in der Hölle; ein Geruchshallucinant glaubt sich überall von Leichen, deren Ausdünstung er zu riechen glaubt, umgeben, baut darauf weitere Schlüsse etc.).
Auch in den Wahnideen sind besonders zwei grosse Unterschiede ihres Inhalts bemerklich, glückliche, erhabene, glänzende Einbildungen und wieder düstere, traurige und schmerzliche falsche Conceptionen. Die ersteren gehen aus den expansiven Affecten und aus heiteren, Glück verkündenden Hallucinationen, die letzteren aus den deprimirten
Falsche Vorstellungen. Wahnideen.
solcher Mahnung noch bedürfte! — Ein solches Verhalten kommt namentlich bei Genesenen nach schwermüthigen und mässigeren tob- süchtigen Zuständen vor, weniger nach der Form des Wahnsinns, aus dem der Kranke gewöhnlich viel verworrenere Erinnerungen behält. Die Angabe eines Genesenen, von allen Vorgängen während des Irre- seins gar nichts mehr zu wissen, ist mit Vorsicht aufzunehmen, da auch genaue Erinnerungen oft aus Scham verschwiegen werden.
b. Falscher Inhalt der Gedanken. Wahnideen.
§. 39.
Mit dem Auftreten falscher Urtheile, die nicht mehr berichtigt werden können, wirklicher Delirien, wird die Geisteskrankheit, wenn sie anfangs nur ein Irresein in Gefühlen und Affecten war, zum Irre- sein der Intelligenz. Der falsche, d. h. mit der Aussenwelt und den früheren Erlebnissen des Individuums nicht mehr congruente Inhalt der Gedanken ergibt sich Anfangs ganz gewöhnlich auf die Weise, dass der Kranke, nach dem Causalitätsgesetze, seine Stimmungen und krankhaften Affecte sich zu erklären sucht (§. 18. 35.). Die allerverschiedensten äusseren Anlässe und Ereignisse und alle möglichen Erinnerungen seines eigenen Lebens können das mannig- faltigste Material dieser Erklärungsversuche abgeben, und der Zufall, die Bildungsstufe und die Lebensansichten des Individuums haben hier den grössten Einfluss. Dieselbe Stimmung, z. B. die in dem Abergläubischen den Wahn der Verhexung erregt, kann einem Andern die Ideen einer Verfolgung durch Freimaurer, einer Beeinträchtigung durch geheime magnetische Manipulationen u. dergl. suppeditiren. Von ganz besonderem Einflusse sowohl auf die Bildung solcher Wahnideen überhaupt, als auf ihren speciellen Inhalt sind alle Hallucinationen; sie sind so häufig, bieten ein so lebhaft aufgedrungenes und oft so constantes Material für Erklärungen dar, dass wir erfahrungsgemäss in ihnen den gewöhnlichen Ursprung der Wahnideen finden müssen (z. B. ein Gesichtshallucinant, der feurige Erscheinungen hat, glaubt sich in der Hölle; ein Geruchshallucinant glaubt sich überall von Leichen, deren Ausdünstung er zu riechen glaubt, umgeben, baut darauf weitere Schlüsse etc.).
Auch in den Wahnideen sind besonders zwei grosse Unterschiede ihres Inhalts bemerklich, glückliche, erhabene, glänzende Einbildungen und wieder düstere, traurige und schmerzliche falsche Conceptionen. Die ersteren gehen aus den expansiven Affecten und aus heiteren, Glück verkündenden Hallucinationen, die letzteren aus den deprimirten
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Falsche Vorstellungen. Wahnideen.
solcher Mahnung noch bedürfte! — Ein solches Verhalten kommt
namentlich bei Genesenen nach schwermüthigen und mässigeren tob-
süchtigen Zuständen vor, weniger nach der Form des Wahnsinns, aus
dem der Kranke gewöhnlich viel verworrenere Erinnerungen behält.
Die Angabe eines Genesenen, von allen Vorgängen während des Irre-
seins gar nichts mehr zu wissen, ist mit Vorsicht aufzunehmen, da
auch genaue Erinnerungen oft aus Scham verschwiegen werden.
b. Falscher Inhalt der Gedanken. Wahnideen.
§. 39.
Mit dem Auftreten falscher Urtheile, die nicht mehr berichtigt
werden können, wirklicher Delirien, wird die Geisteskrankheit, wenn
sie anfangs nur ein Irresein in Gefühlen und Affecten war, zum Irre-
sein der Intelligenz. Der falsche, d. h. mit der Aussenwelt und den
früheren Erlebnissen des Individuums nicht mehr congruente Inhalt
der Gedanken ergibt sich Anfangs ganz gewöhnlich auf die Weise,
dass der Kranke, nach dem Causalitätsgesetze, seine Stimmungen
und krankhaften Affecte sich zu erklären sucht (§. 18. 35.).
Die allerverschiedensten äusseren Anlässe und Ereignisse und alle
möglichen Erinnerungen seines eigenen Lebens können das mannig-
faltigste Material dieser Erklärungsversuche abgeben, und der Zufall,
die Bildungsstufe und die Lebensansichten des Individuums haben
hier den grössten Einfluss. Dieselbe Stimmung, z. B. die in dem
Abergläubischen den Wahn der Verhexung erregt, kann einem Andern
die Ideen einer Verfolgung durch Freimaurer, einer Beeinträchtigung
durch geheime magnetische Manipulationen u. dergl. suppeditiren. Von
ganz besonderem Einflusse sowohl auf die Bildung solcher Wahnideen
überhaupt, als auf ihren speciellen Inhalt sind alle Hallucinationen;
sie sind so häufig, bieten ein so lebhaft aufgedrungenes und oft so
constantes Material für Erklärungen dar, dass wir erfahrungsgemäss
in ihnen den gewöhnlichen Ursprung der Wahnideen finden müssen
(z. B. ein Gesichtshallucinant, der feurige Erscheinungen hat, glaubt
sich in der Hölle; ein Geruchshallucinant glaubt sich überall von
Leichen, deren Ausdünstung er zu riechen glaubt, umgeben, baut
darauf weitere Schlüsse etc.).
Auch in den Wahnideen sind besonders zwei grosse Unterschiede
ihres Inhalts bemerklich, glückliche, erhabene, glänzende Einbildungen
und wieder düstere, traurige und schmerzliche falsche Conceptionen.
Die ersteren gehen aus den expansiven Affecten und aus heiteren,
Glück verkündenden Hallucinationen, die letzteren aus den deprimirten
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/72>, abgerufen am 03.03.2025.
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