Gedanken und Schüchternheit im Urtheilen bemerklich. Dieser Zu- stand findet sich vorzüglich in der Melancholie und im Blödsinn.
Eine erhöhte Production und ein beschleunigter Ablauf der Gedanken kann in mässigeren Graden die geistige Combination erleichtern; man sieht dann zuweilen sonst eben nicht geistreiche Menschen scharfsinniger und witziger werden, namentlich stellt sich zuweilen der gelungene Ausdruck feineren Spottes gegen die Um- gebung, leichte Versification und dergl. ein. Indessen hört man nur wenig Kluges von den Irren. Denn gerade in diesen Zuständen, wo der bildenden geistigen Thätigkeit ein reichlicheres Material geboten wird, stellt sich gewöhnlich sehr bald Unordnung und Verworren- heit ein. Wenn nämlich grosse Mengen von Vorstellungen im Ge- hirn entstehen und ihr Lauf beschleunigt ist, so ziehen sie zwar lange Reihen nach und oft kommen hier längst vergessene Bilder und Ereignisse, Worte, Lieder u. dergl. mit der Frische der ersten In- tuition wieder herauf; aber indem die Vorstellungen so rasch von einander gedrängt werden, dass sie nicht in die gehörigen Verbin- dungen eingehen können, indem ferner durch diese Mannigfaltigkeit der Gedanken leicht auch ein grosser Wechsel der Gemüthszustände gesetzt wird, entsteht nur höchste Unruhe und eine haltlose Ideen- jagd. In deren Strome wird dann Alles in bunter Flucht fortgerissen, und es ist ein Zufall, wenn in ihren Wirbeln hier und da die Ele- mente zu einem baroken Gedanken zusammentreffen, der sich -- wenigstens noch geistreicher als seine Umgebung ausnimmt.
Diese letzteren Zustände kommen hauptsächlich in der Tobsucht vor; bei ihrem Beginne namentlich zeigt sich oft grössere geistige Leb- haftigkeit, und man hat Fälle beobachtet, wo es jedesmal ein sicheres Zeichen des nahenden Tobanfalls war, wenn der Kranke witzig wurde.
Verworrenheit der Gedanken entsteht übrigens nicht allein auf die ange- gebene Art, durch eine Ueberfüllung des Bewusstseins. Es gibt auch eine ver- wirrte Incohärenz im Denken und Reden, die den Gedankensprüngen und Ellipsen des Affects, z. B. des Zorns, entspricht, und wieder eine andere, die aus gänz- lichem Zerfall und tiefer Zerrüttung der psychischen Processe hervorgeht. Der psychologische Mechanismus dieser letzteren Zustände ist im Einzelnen noch sehr dunkel, es scheint uns, dass die Incohärenz häufig darauf beruht, dass sich die Vorstellungen nicht sowohl nach ihrem (ähnlichen oder contrastirenden) Inhalt, sondern mehr nach den äusseren Aehnlichkeiten des Wortklangs hervorrufen. Vielleicht hat eine mangelnde Zusammenwirkung beider Gehirnhälften grossen An- theil an der Verworrenheit überhaupt.
Für die in diesem §. erwähnten krankhaften Beschaffenheiten des Denkens finden sich viele physiologische Analogieen, theils in der zähen Hartnäckigkeit, mit der uns unangenehme Vorstellungen verfolgen können, in der Wortkargheit, in
Die Verworrenheit.
Gedanken und Schüchternheit im Urtheilen bemerklich. Dieser Zu- stand findet sich vorzüglich in der Melancholie und im Blödsinn.
Eine erhöhte Production und ein beschleunigter Ablauf der Gedanken kann in mässigeren Graden die geistige Combination erleichtern; man sieht dann zuweilen sonst eben nicht geistreiche Menschen scharfsinniger und witziger werden, namentlich stellt sich zuweilen der gelungene Ausdruck feineren Spottes gegen die Um- gebung, leichte Versification und dergl. ein. Indessen hört man nur wenig Kluges von den Irren. Denn gerade in diesen Zuständen, wo der bildenden geistigen Thätigkeit ein reichlicheres Material geboten wird, stellt sich gewöhnlich sehr bald Unordnung und Verworren- heit ein. Wenn nämlich grosse Mengen von Vorstellungen im Ge- hirn entstehen und ihr Lauf beschleunigt ist, so ziehen sie zwar lange Reihen nach und oft kommen hier längst vergessene Bilder und Ereignisse, Worte, Lieder u. dergl. mit der Frische der ersten In- tuition wieder herauf; aber indem die Vorstellungen so rasch von einander gedrängt werden, dass sie nicht in die gehörigen Verbin- dungen eingehen können, indem ferner durch diese Mannigfaltigkeit der Gedanken leicht auch ein grosser Wechsel der Gemüthszustände gesetzt wird, entsteht nur höchste Unruhe und eine haltlose Ideen- jagd. In deren Strome wird dann Alles in bunter Flucht fortgerissen, und es ist ein Zufall, wenn in ihren Wirbeln hier und da die Ele- mente zu einem baroken Gedanken zusammentreffen, der sich — wenigstens noch geistreicher als seine Umgebung ausnimmt.
Diese letzteren Zustände kommen hauptsächlich in der Tobsucht vor; bei ihrem Beginne namentlich zeigt sich oft grössere geistige Leb- haftigkeit, und man hat Fälle beobachtet, wo es jedesmal ein sicheres Zeichen des nahenden Tobanfalls war, wenn der Kranke witzig wurde.
Verworrenheit der Gedanken entsteht übrigens nicht allein auf die ange- gebene Art, durch eine Ueberfüllung des Bewusstseins. Es gibt auch eine ver- wirrte Incohärenz im Denken und Reden, die den Gedankensprüngen und Ellipsen des Affects, z. B. des Zorns, entspricht, und wieder eine andere, die aus gänz- lichem Zerfall und tiefer Zerrüttung der psychischen Processe hervorgeht. Der psychologische Mechanismus dieser letzteren Zustände ist im Einzelnen noch sehr dunkel, es scheint uns, dass die Incohärenz häufig darauf beruht, dass sich die Vorstellungen nicht sowohl nach ihrem (ähnlichen oder contrastirenden) Inhalt, sondern mehr nach den äusseren Aehnlichkeiten des Wortklangs hervorrufen. Vielleicht hat eine mangelnde Zusammenwirkung beider Gehirnhälften grossen An- theil an der Verworrenheit überhaupt.
Für die in diesem §. erwähnten krankhaften Beschaffenheiten des Denkens finden sich viele physiologische Analogieen, theils in der zähen Hartnäckigkeit, mit der uns unangenehme Vorstellungen verfolgen können, in der Wortkargheit, in
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Die Verworrenheit.
Gedanken und Schüchternheit im Urtheilen bemerklich. Dieser Zu-
stand findet sich vorzüglich in der Melancholie und im Blödsinn.
Eine erhöhte Production und ein beschleunigter Ablauf
der Gedanken kann in mässigeren Graden die geistige Combination
erleichtern; man sieht dann zuweilen sonst eben nicht geistreiche
Menschen scharfsinniger und witziger werden, namentlich stellt sich
zuweilen der gelungene Ausdruck feineren Spottes gegen die Um-
gebung, leichte Versification und dergl. ein. Indessen hört man nur
wenig Kluges von den Irren. Denn gerade in diesen Zuständen, wo
der bildenden geistigen Thätigkeit ein reichlicheres Material geboten
wird, stellt sich gewöhnlich sehr bald Unordnung und Verworren-
heit ein. Wenn nämlich grosse Mengen von Vorstellungen im Ge-
hirn entstehen und ihr Lauf beschleunigt ist, so ziehen sie zwar
lange Reihen nach und oft kommen hier längst vergessene Bilder und
Ereignisse, Worte, Lieder u. dergl. mit der Frische der ersten In-
tuition wieder herauf; aber indem die Vorstellungen so rasch von
einander gedrängt werden, dass sie nicht in die gehörigen Verbin-
dungen eingehen können, indem ferner durch diese Mannigfaltigkeit
der Gedanken leicht auch ein grosser Wechsel der Gemüthszustände
gesetzt wird, entsteht nur höchste Unruhe und eine haltlose Ideen-
jagd. In deren Strome wird dann Alles in bunter Flucht fortgerissen,
und es ist ein Zufall, wenn in ihren Wirbeln hier und da die Ele-
mente zu einem baroken Gedanken zusammentreffen, der sich —
wenigstens noch geistreicher als seine Umgebung ausnimmt.
Diese letzteren Zustände kommen hauptsächlich in der Tobsucht
vor; bei ihrem Beginne namentlich zeigt sich oft grössere geistige Leb-
haftigkeit, und man hat Fälle beobachtet, wo es jedesmal ein sicheres
Zeichen des nahenden Tobanfalls war, wenn der Kranke witzig wurde.
Verworrenheit der Gedanken entsteht übrigens nicht allein auf die ange-
gebene Art, durch eine Ueberfüllung des Bewusstseins. Es gibt auch eine ver-
wirrte Incohärenz im Denken und Reden, die den Gedankensprüngen und Ellipsen
des Affects, z. B. des Zorns, entspricht, und wieder eine andere, die aus gänz-
lichem Zerfall und tiefer Zerrüttung der psychischen Processe hervorgeht. Der
psychologische Mechanismus dieser letzteren Zustände ist im Einzelnen noch sehr
dunkel, es scheint uns, dass die Incohärenz häufig darauf beruht, dass sich die
Vorstellungen nicht sowohl nach ihrem (ähnlichen oder contrastirenden) Inhalt,
sondern mehr nach den äusseren Aehnlichkeiten des Wortklangs hervorrufen.
Vielleicht hat eine mangelnde Zusammenwirkung beider Gehirnhälften grossen An-
theil an der Verworrenheit überhaupt.
Für die in diesem §. erwähnten krankhaften Beschaffenheiten des Denkens
finden sich viele physiologische Analogieen, theils in der zähen Hartnäckigkeit, mit
der uns unangenehme Vorstellungen verfolgen können, in der Wortkargheit, in
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/70>, abgerufen am 09.11.2024.
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