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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Geistesstörungen.
Krankheits-Phänomene ja nicht für Nebendinge halten. Die anomale Sinnes-
thätigkeit
spielt eine grosse Rolle im Irresein, und die Störungen dessen, was
man die Phantasie nennt (§. 15.) reichen zu grossem Theile auf ihr Gebiet herüber.
Die motorischen Anomalieen aber, die auf den ersten Blick dem Irresein ganz
fremd zu sein scheinen, gehören gerade, wie sich später ergeben wird, für die
anatomische Diagnostik und für die Prognose zu den allerwichtigsten Punkten.


Erstes Capitel.
Die geistigen Elementarstörungen. *)
§. 33.

Der wesentliche Process beim Irresein, das eigentlich Krankhafte
darin beruht in der Hauptsache darauf, dass gewisse Gehirnzustände,
gewisse Stimmungen, Affecte, Urtheile, Willensimpulse von innen
heraus, durch Krankheit des Seelenorgans entstehen, während im ge-
sunden Zustande unsre Affecte, Urtheile, Willensbestimmungen nur
auf genügende äussere Veranlassungen entstehen und desshalb auch
mit der Aussenwelt in einem gewissen harmonischen Verhältnisse
bleiben. Niemand wundert sich, wenn Jemand, der einen grossen
Verlust erlitten, traurig wird, wenn ein Anderer, dem ein lebhafter
Wunsch erfüllt wurde, eine laute Freude zeigt; aber man hält es mit
Recht für krankhaft, wenn der Mensch ohne alle äussere Motive in
Traurigkeit versinkt oder in laute Fröhlichkeit ausbricht, oder wenn
zwar ein äusserer Anlass gegeben ist, das Individuum aber in ganz
übermässig heftiger und lange andauernder Weise davon afficirt wird,
wenn z. B. ein unbedeutender Vorfall heftigen Zorn erregt, aus dem
der Mensch lange gar nicht mehr herauskommen kann.

Nach demselben Grundsatze beurtheilen wir alle Vorgänge im Nervensystem.
Ermüdung nach einem starken Marsche ist das Normale, anhaltende Müdigkeit
bei steter Ruhe des Körpers ist krankhaft. Frieren durch äussere Kälte ist das
Normale; Frost bei warmer, äusserer Temperatur ist krankhaft. Pelzigsein des
Beins nach einem Druck auf den Nerven ist schon ein leichter Krankheitszustand,
aber man zählt ihn zum verhältnissmässig Normalen gegenüber dem Fall, wo das
Bein durch eine innere Ursache, eine Rückenmarkskrankheit, beständig einge-
schlafen ist. Ebenso ist es krankhaft, wenn zwar ein kleiner Anlass gegeben,
aber die Reaction übermässig heftig ist, wenn Jemand nach wenigen Schritten
schon ermüdet, oder nach einem kühlen Luftzuge in heftigen Frost verfällt etc.
Da aber die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit nirgends feststeht, so
werden manche hierhergehörige, namentlich vorübergehende, Zustände gewöhnlich

*) Für die nächstfolgenden §§. vergl. die Bemerkungen von Zeller zu
Guislains Phrenopathieen. Stuttg. 1838. p. 440--591.

Geistesstörungen.
Krankheits-Phänomene ja nicht für Nebendinge halten. Die anomale Sinnes-
thätigkeit
spielt eine grosse Rolle im Irresein, und die Störungen dessen, was
man die Phantasie nennt (§. 15.) reichen zu grossem Theile auf ihr Gebiet herüber.
Die motorischen Anomalieen aber, die auf den ersten Blick dem Irresein ganz
fremd zu sein scheinen, gehören gerade, wie sich später ergeben wird, für die
anatomische Diagnostik und für die Prognose zu den allerwichtigsten Punkten.


Erstes Capitel.
Die geistigen Elementarstörungen. *)
§. 33.

Der wesentliche Process beim Irresein, das eigentlich Krankhafte
darin beruht in der Hauptsache darauf, dass gewisse Gehirnzustände,
gewisse Stimmungen, Affecte, Urtheile, Willensimpulse von innen
heraus, durch Krankheit des Seelenorgans entstehen, während im ge-
sunden Zustande unsre Affecte, Urtheile, Willensbestimmungen nur
auf genügende äussere Veranlassungen entstehen und desshalb auch
mit der Aussenwelt in einem gewissen harmonischen Verhältnisse
bleiben. Niemand wundert sich, wenn Jemand, der einen grossen
Verlust erlitten, traurig wird, wenn ein Anderer, dem ein lebhafter
Wunsch erfüllt wurde, eine laute Freude zeigt; aber man hält es mit
Recht für krankhaft, wenn der Mensch ohne alle äussere Motive in
Traurigkeit versinkt oder in laute Fröhlichkeit ausbricht, oder wenn
zwar ein äusserer Anlass gegeben ist, das Individuum aber in ganz
übermässig heftiger und lange andauernder Weise davon afficirt wird,
wenn z. B. ein unbedeutender Vorfall heftigen Zorn erregt, aus dem
der Mensch lange gar nicht mehr herauskommen kann.

Nach demselben Grundsatze beurtheilen wir alle Vorgänge im Nervensystem.
Ermüdung nach einem starken Marsche ist das Normale, anhaltende Müdigkeit
bei steter Ruhe des Körpers ist krankhaft. Frieren durch äussere Kälte ist das
Normale; Frost bei warmer, äusserer Temperatur ist krankhaft. Pelzigsein des
Beins nach einem Druck auf den Nerven ist schon ein leichter Krankheitszustand,
aber man zählt ihn zum verhältnissmässig Normalen gegenüber dem Fall, wo das
Bein durch eine innere Ursache, eine Rückenmarkskrankheit, beständig einge-
schlafen ist. Ebenso ist es krankhaft, wenn zwar ein kleiner Anlass gegeben,
aber die Reaction übermässig heftig ist, wenn Jemand nach wenigen Schritten
schon ermüdet, oder nach einem kühlen Luftzuge in heftigen Frost verfällt etc.
Da aber die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit nirgends feststeht, so
werden manche hierhergehörige, namentlich vorübergehende, Zustände gewöhnlich

*) Für die nächstfolgenden §§. vergl. die Bemerkungen von Zeller zu
Guislains Phrenopathieen. Stuttg. 1838. p. 440—591.
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[50/0064] Geistesstörungen. Krankheits-Phänomene ja nicht für Nebendinge halten. Die anomale Sinnes- thätigkeit spielt eine grosse Rolle im Irresein, und die Störungen dessen, was man die Phantasie nennt (§. 15.) reichen zu grossem Theile auf ihr Gebiet herüber. Die motorischen Anomalieen aber, die auf den ersten Blick dem Irresein ganz fremd zu sein scheinen, gehören gerade, wie sich später ergeben wird, für die anatomische Diagnostik und für die Prognose zu den allerwichtigsten Punkten. Erstes Capitel. Die geistigen Elementarstörungen. *) §. 33. Der wesentliche Process beim Irresein, das eigentlich Krankhafte darin beruht in der Hauptsache darauf, dass gewisse Gehirnzustände, gewisse Stimmungen, Affecte, Urtheile, Willensimpulse von innen heraus, durch Krankheit des Seelenorgans entstehen, während im ge- sunden Zustande unsre Affecte, Urtheile, Willensbestimmungen nur auf genügende äussere Veranlassungen entstehen und desshalb auch mit der Aussenwelt in einem gewissen harmonischen Verhältnisse bleiben. Niemand wundert sich, wenn Jemand, der einen grossen Verlust erlitten, traurig wird, wenn ein Anderer, dem ein lebhafter Wunsch erfüllt wurde, eine laute Freude zeigt; aber man hält es mit Recht für krankhaft, wenn der Mensch ohne alle äussere Motive in Traurigkeit versinkt oder in laute Fröhlichkeit ausbricht, oder wenn zwar ein äusserer Anlass gegeben ist, das Individuum aber in ganz übermässig heftiger und lange andauernder Weise davon afficirt wird, wenn z. B. ein unbedeutender Vorfall heftigen Zorn erregt, aus dem der Mensch lange gar nicht mehr herauskommen kann. Nach demselben Grundsatze beurtheilen wir alle Vorgänge im Nervensystem. Ermüdung nach einem starken Marsche ist das Normale, anhaltende Müdigkeit bei steter Ruhe des Körpers ist krankhaft. Frieren durch äussere Kälte ist das Normale; Frost bei warmer, äusserer Temperatur ist krankhaft. Pelzigsein des Beins nach einem Druck auf den Nerven ist schon ein leichter Krankheitszustand, aber man zählt ihn zum verhältnissmässig Normalen gegenüber dem Fall, wo das Bein durch eine innere Ursache, eine Rückenmarkskrankheit, beständig einge- schlafen ist. Ebenso ist es krankhaft, wenn zwar ein kleiner Anlass gegeben, aber die Reaction übermässig heftig ist, wenn Jemand nach wenigen Schritten schon ermüdet, oder nach einem kühlen Luftzuge in heftigen Frost verfällt etc. Da aber die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit nirgends feststeht, so werden manche hierhergehörige, namentlich vorübergehende, Zustände gewöhnlich *) Für die nächstfolgenden §§. vergl. die Bemerkungen von Zeller zu Guislains Phrenopathieen. Stuttg. 1838. p. 440—591.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/64>, abgerufen am 22.12.2024.