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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Historisches.
friedlichen Reformen durch, die er damit begann, den Irren die Ket-
ten abzunehmen *). Pinels Bestrebungen wurden zum Beispiel und
Anstoss für die Umgestaltung der ganzen Irrenbehandlung. Das Ver-
dienst derselben in Deutschland hat vorzüglich Langermann, und der
Umschwung der Ansichten war schon ein so bedeutender, die Aner-
kennung der Heilbarkeit und Heilbedürftigkeit des Irreseins war schon
so weit, dass Langermann zuerst practisch und nachdrücklich auf
Errichtung eigener Heilanstalten und deren gänzliche Geschiedenheit
von den Anstalten für Unheilbare dringen konnte. Die erste deutsche
Heilanstalt, in welcher die neuen Ideen durchgeführt und in der Aus-
übung vervollkommnet wurden, war der Sonnenstein in Sachsen unter
der Leitung von Pienitz, welcher als Pflegeanstalten Anfangs Wald-
heim, später Colditz zur Seite standen. Diesen ersten, durchaus ge-
lungenen Versuchen im Anstaltswesen folgte allmählig in Deutschland
die neue Errichtung oder völlige Umgestaltung der öffentlichen An-
stalten von Schleswig (1820), Siegburg (1825), Heidelberg (1826),
Prag (1826), Hildesheim (1827), Leubus in Schlesien (1830), Hall in
Tyrol (1830), Sachsenberg in Mecklenburg-Schwerin (1830), Winnen-
thal und Zwiefalten in Würtemberg (1834), Marsberg in Westphalen
(1835), Illenau in Baden (1840), denen sich noch viele andere,
kleinere oder weniger bekannte und mehrere zum Theil noch nicht
vollendete Anstalten (Eberbach, Halle, Erlangen) aus der neuesten
Zeit anschliessen.

Mit der Einrichtung solcher zweckmässiger Anstalten ist in den letzten
30 Jahren in den meisten Ländern wirklich Ausserordentliches für die Irren-
therapie geleistet worden. Namentlich in Deutschland waren, während sich die
theoretische Psychiatrie fast ganz abstrusen Discussionen hingegeben hatte, (ob

*) Pinel wandte sich mit seinen Bestrebungen für Besserung des Looses der
seiner Sorgfalt übergebenen Irren zuerst an die öffentlichen Behörden: man be-
handelte ihn darüber als Moderirten und Aristokraten, Namen, die damals fast
einem Todesurtheil gleich kamen. Dadurch nicht geschreckt, trat er vor den
Pariser Gemeinderath und forderte mit neuer Wärme die Autorisation zu seinen
Reformen. "Bürger," sagte da Couthon zu ihm, "ich werde dich morgen in
Bicetre besuchen; und wehe dir, wenn du uns getäuscht hast, wenn du unter
deinen Narren Feinde des Volks verbirgst." Couthon kam wirklich; das Ge-
schrei und Geheul der Irren, die er anfangs einzeln ausfragen wollte, war ihm
bald zuwider und er sagte zu Pinel: "Ach, Bürger, bist du selbst ein Narr, dass
du solches Vieh Ioslassen willst? Mach mit ihnen, was du willst; aber ich fürchte
sehr, du wirst das Opfer deiner Vorurtheile werden." -- Noch denselben Tag
begann Pinel sein Unternehmen und nahm einer Anzahl Kranken die Ketten ab.
S. d. Erzählung, welche nach Pinel's eigenem Tagebuch sein Sohn gegeben hat.
Memoires de l'acad. roy. de medecine. Tom. V. Par. 1836.

Historisches.
friedlichen Reformen durch, die er damit begann, den Irren die Ket-
ten abzunehmen *). Pinels Bestrebungen wurden zum Beispiel und
Anstoss für die Umgestaltung der ganzen Irrenbehandlung. Das Ver-
dienst derselben in Deutschland hat vorzüglich Langermann, und der
Umschwung der Ansichten war schon ein so bedeutender, die Aner-
kennung der Heilbarkeit und Heilbedürftigkeit des Irreseins war schon
so weit, dass Langermann zuerst practisch und nachdrücklich auf
Errichtung eigener Heilanstalten und deren gänzliche Geschiedenheit
von den Anstalten für Unheilbare dringen konnte. Die erste deutsche
Heilanstalt, in welcher die neuen Ideen durchgeführt und in der Aus-
übung vervollkommnet wurden, war der Sonnenstein in Sachsen unter
der Leitung von Pienitz, welcher als Pflegeanstalten Anfangs Wald-
heim, später Colditz zur Seite standen. Diesen ersten, durchaus ge-
lungenen Versuchen im Anstaltswesen folgte allmählig in Deutschland
die neue Errichtung oder völlige Umgestaltung der öffentlichen An-
stalten von Schleswig (1820), Siegburg (1825), Heidelberg (1826),
Prag (1826), Hildesheim (1827), Leubus in Schlesien (1830), Hall in
Tyrol (1830), Sachsenberg in Mecklenburg-Schwerin (1830), Winnen-
thal und Zwiefalten in Würtemberg (1834), Marsberg in Westphalen
(1835), Illenau in Baden (1840), denen sich noch viele andere,
kleinere oder weniger bekannte und mehrere zum Theil noch nicht
vollendete Anstalten (Eberbach, Halle, Erlangen) aus der neuesten
Zeit anschliessen.

Mit der Einrichtung solcher zweckmässiger Anstalten ist in den letzten
30 Jahren in den meisten Ländern wirklich Ausserordentliches für die Irren-
therapie geleistet worden. Namentlich in Deutschland waren, während sich die
theoretische Psychiatrie fast ganz abstrusen Discussionen hingegeben hatte, (ob

*) Pinel wandte sich mit seinen Bestrebungen für Besserung des Looses der
seiner Sorgfalt übergebenen Irren zuerst an die öffentlichen Behörden: man be-
handelte ihn darüber als Moderirten und Aristokraten, Namen, die damals fast
einem Todesurtheil gleich kamen. Dadurch nicht geschreckt, trat er vor den
Pariser Gemeinderath und forderte mit neuer Wärme die Autorisation zu seinen
Reformen. „Bürger,“ sagte da Couthon zu ihm, „ich werde dich morgen in
Bicètre besuchen; und wehe dir, wenn du uns getäuscht hast, wenn du unter
deinen Narren Feinde des Volks verbirgst.“ Couthon kam wirklich; das Ge-
schrei und Geheul der Irren, die er anfangs einzeln ausfragen wollte, war ihm
bald zuwider und er sagte zu Pinel: „Ach, Bürger, bist du selbst ein Narr, dass
du solches Vieh Ioslassen willst? Mach mit ihnen, was du willst; aber ich fürchte
sehr, du wirst das Opfer deiner Vorurtheile werden.“ — Noch denselben Tag
begann Pinel sein Unternehmen und nahm einer Anzahl Kranken die Ketten ab.
S. d. Erzählung, welche nach Pinel’s eigenem Tagebuch sein Sohn gegeben hat.
Mémoires de l’acad. roy. de médecine. Tom. V. Par. 1836.
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[383/0397] Historisches. friedlichen Reformen durch, die er damit begann, den Irren die Ket- ten abzunehmen *). Pinels Bestrebungen wurden zum Beispiel und Anstoss für die Umgestaltung der ganzen Irrenbehandlung. Das Ver- dienst derselben in Deutschland hat vorzüglich Langermann, und der Umschwung der Ansichten war schon ein so bedeutender, die Aner- kennung der Heilbarkeit und Heilbedürftigkeit des Irreseins war schon so weit, dass Langermann zuerst practisch und nachdrücklich auf Errichtung eigener Heilanstalten und deren gänzliche Geschiedenheit von den Anstalten für Unheilbare dringen konnte. Die erste deutsche Heilanstalt, in welcher die neuen Ideen durchgeführt und in der Aus- übung vervollkommnet wurden, war der Sonnenstein in Sachsen unter der Leitung von Pienitz, welcher als Pflegeanstalten Anfangs Wald- heim, später Colditz zur Seite standen. Diesen ersten, durchaus ge- lungenen Versuchen im Anstaltswesen folgte allmählig in Deutschland die neue Errichtung oder völlige Umgestaltung der öffentlichen An- stalten von Schleswig (1820), Siegburg (1825), Heidelberg (1826), Prag (1826), Hildesheim (1827), Leubus in Schlesien (1830), Hall in Tyrol (1830), Sachsenberg in Mecklenburg-Schwerin (1830), Winnen- thal und Zwiefalten in Würtemberg (1834), Marsberg in Westphalen (1835), Illenau in Baden (1840), denen sich noch viele andere, kleinere oder weniger bekannte und mehrere zum Theil noch nicht vollendete Anstalten (Eberbach, Halle, Erlangen) aus der neuesten Zeit anschliessen. Mit der Einrichtung solcher zweckmässiger Anstalten ist in den letzten 30 Jahren in den meisten Ländern wirklich Ausserordentliches für die Irren- therapie geleistet worden. Namentlich in Deutschland waren, während sich die theoretische Psychiatrie fast ganz abstrusen Discussionen hingegeben hatte, (ob *) Pinel wandte sich mit seinen Bestrebungen für Besserung des Looses der seiner Sorgfalt übergebenen Irren zuerst an die öffentlichen Behörden: man be- handelte ihn darüber als Moderirten und Aristokraten, Namen, die damals fast einem Todesurtheil gleich kamen. Dadurch nicht geschreckt, trat er vor den Pariser Gemeinderath und forderte mit neuer Wärme die Autorisation zu seinen Reformen. „Bürger,“ sagte da Couthon zu ihm, „ich werde dich morgen in Bicètre besuchen; und wehe dir, wenn du uns getäuscht hast, wenn du unter deinen Narren Feinde des Volks verbirgst.“ Couthon kam wirklich; das Ge- schrei und Geheul der Irren, die er anfangs einzeln ausfragen wollte, war ihm bald zuwider und er sagte zu Pinel: „Ach, Bürger, bist du selbst ein Narr, dass du solches Vieh Ioslassen willst? Mach mit ihnen, was du willst; aber ich fürchte sehr, du wirst das Opfer deiner Vorurtheile werden.“ — Noch denselben Tag begann Pinel sein Unternehmen und nahm einer Anzahl Kranken die Ketten ab. S. d. Erzählung, welche nach Pinel’s eigenem Tagebuch sein Sohn gegeben hat. Mémoires de l’acad. roy. de médecine. Tom. V. Par. 1836.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/397>, abgerufen am 22.11.2024.