Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite
Behandlung einzelner Symptome.

Für den paralytischen Blödsinn gibt es keine Therapie.
Einzelne Beobachter wollen vom Glüheisen, andere von der metho-
disch und lange fortgesetzten Anwendung trockener oder nur ein
Minimum von Blut entleerender Schröpfköpfe im Nacken einzelne
spärliche Erfolge gesehen haben. Strengste Reinlichkeit (übrigens
mit Ausschluss aller Bäder), gewählte kräftige Diät, am Ende nur aus
weichen und halbflüssigen Speisen bestehend, vor Allem reine Luft
und möglichster Aufenthalt im Freien, im Uebrigen alle Sorgfalt, die
dem zarten Kindesalter nothwendig ist, sind das Einzige, was das
Leben dieser Unglücklichen noch verlängern und erträglicher ma-
chen kann.

§. 184.

Bei auffallenden Hallucinationen werde das betreffende Sinnes-
organ genau untersucht, unter Umständen das Ohr durch Injectionen
gereinigt, und man kann hier einzelne Versuche mit Abhaltung der
Sinnesreize, mit Blutegeln, Ableitungen auf die Haut, Datura etc.
machen.

Auch bei Nahrungsverweigerung muss zuerst die Mundhöhle
untersucht werden, da jene zuweilen durch Entzündung der Schleim-
haut, durch Angina und dergl. veranlasst werden kann; ist nichts solches
aufzufinden, so suche man den Kranken gleichfalls nicht durch vieles
Zureden, sondern durch Vorsetzen gewählter Speisen, die man ihm
einsam überlässt und stillschweigend wieder wegnimmt, manchmal
auch durch Beispiel von seinem Entschluss abzubringen. Gelingt es
nicht bald, so schreite man nach einer kurzen Aufforderung ganz
ruhig zur Anwendung von Zwangsmassregeln, indem man ihm anfangs
die Speisen, nöthigenfalls mit Zuhalten der Nase einfach aufnöthigt,
bei noch grösserer Hartnäckigkeit die Schlundsonde anwendet. Bei
lange dauernder Speiseverweigerung nehme man übrigens zuerst keine
reizenden Flüssigkeiten, wie Wein und dergl., sondern milde Sub-
stanzen, Milch, Bouillon etc.

Der Hang zur Masturbation ist höchst schwierig radical zu
beseitigen, und doch gelingt kaum eine Heilung während seiner Fort-
dauer. Die mechanischen Vorrichtungen erreichen ihren Zweck sel-
ten vollständig; die Hauptsache ist die genaueste Aufsicht auf den
Kranken, der keinen Augenblick allein sein darf, Arbeit oder
Spaziergänge bis zur Ermüdung, etwas knappe Kost, kühle Bäder, ein
hartes Lager, bei Einzelnen die consequenteste Strenge. Die Ursachen
dieser Gewohnheiten bedürfen oft einer arzneilichen Behandlung;

Behandlung einzelner Symptome.

Für den paralytischen Blödsinn gibt es keine Therapie.
Einzelne Beobachter wollen vom Glüheisen, andere von der metho-
disch und lange fortgesetzten Anwendung trockener oder nur ein
Minimum von Blut entleerender Schröpfköpfe im Nacken einzelne
spärliche Erfolge gesehen haben. Strengste Reinlichkeit (übrigens
mit Ausschluss aller Bäder), gewählte kräftige Diät, am Ende nur aus
weichen und halbflüssigen Speisen bestehend, vor Allem reine Luft
und möglichster Aufenthalt im Freien, im Uebrigen alle Sorgfalt, die
dem zarten Kindesalter nothwendig ist, sind das Einzige, was das
Leben dieser Unglücklichen noch verlängern und erträglicher ma-
chen kann.

§. 184.

Bei auffallenden Hallucinationen werde das betreffende Sinnes-
organ genau untersucht, unter Umständen das Ohr durch Injectionen
gereinigt, und man kann hier einzelne Versuche mit Abhaltung der
Sinnesreize, mit Blutegeln, Ableitungen auf die Haut, Datura etc.
machen.

Auch bei Nahrungsverweigerung muss zuerst die Mundhöhle
untersucht werden, da jene zuweilen durch Entzündung der Schleim-
haut, durch Angina und dergl. veranlasst werden kann; ist nichts solches
aufzufinden, so suche man den Kranken gleichfalls nicht durch vieles
Zureden, sondern durch Vorsetzen gewählter Speisen, die man ihm
einsam überlässt und stillschweigend wieder wegnimmt, manchmal
auch durch Beispiel von seinem Entschluss abzubringen. Gelingt es
nicht bald, so schreite man nach einer kurzen Aufforderung ganz
ruhig zur Anwendung von Zwangsmassregeln, indem man ihm anfangs
die Speisen, nöthigenfalls mit Zuhalten der Nase einfach aufnöthigt,
bei noch grösserer Hartnäckigkeit die Schlundsonde anwendet. Bei
lange dauernder Speiseverweigerung nehme man übrigens zuerst keine
reizenden Flüssigkeiten, wie Wein und dergl., sondern milde Sub-
stanzen, Milch, Bouillon etc.

Der Hang zur Masturbation ist höchst schwierig radical zu
beseitigen, und doch gelingt kaum eine Heilung während seiner Fort-
dauer. Die mechanischen Vorrichtungen erreichen ihren Zweck sel-
ten vollständig; die Hauptsache ist die genaueste Aufsicht auf den
Kranken, der keinen Augenblick allein sein darf, Arbeit oder
Spaziergänge bis zur Ermüdung, etwas knappe Kost, kühle Bäder, ein
hartes Lager, bei Einzelnen die consequenteste Strenge. Die Ursachen
dieser Gewohnheiten bedürfen oft einer arzneilichen Behandlung;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0393" n="379"/>
              <fw place="top" type="header">Behandlung einzelner Symptome.</fw><lb/>
              <p>Für den <hi rendition="#g">paralytischen Blödsinn</hi> gibt es keine Therapie.<lb/>
Einzelne Beobachter wollen vom Glüheisen, andere von der metho-<lb/>
disch und lange fortgesetzten Anwendung trockener oder nur ein<lb/>
Minimum von Blut entleerender Schröpfköpfe im Nacken einzelne<lb/>
spärliche Erfolge gesehen haben. Strengste Reinlichkeit (übrigens<lb/>
mit Ausschluss aller Bäder), gewählte kräftige Diät, am Ende nur aus<lb/>
weichen und halbflüssigen Speisen bestehend, vor Allem reine Luft<lb/>
und möglichster Aufenthalt im Freien, im Uebrigen alle Sorgfalt, die<lb/>
dem zarten Kindesalter nothwendig ist, sind das Einzige, was das<lb/>
Leben dieser Unglücklichen noch verlängern und erträglicher ma-<lb/>
chen kann.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 184.</head><lb/>
              <p>Bei auffallenden <hi rendition="#g">Hallucinationen</hi> werde das betreffende Sinnes-<lb/>
organ genau untersucht, unter Umständen das Ohr durch Injectionen<lb/>
gereinigt, und man kann hier einzelne Versuche mit Abhaltung der<lb/>
Sinnesreize, mit Blutegeln, Ableitungen auf die Haut, Datura etc.<lb/>
machen.</p><lb/>
              <p>Auch bei <hi rendition="#g">Nahrungsverweigerung</hi> muss zuerst die Mundhöhle<lb/>
untersucht werden, da jene zuweilen durch Entzündung der Schleim-<lb/>
haut, durch Angina und dergl. veranlasst werden kann; ist nichts solches<lb/>
aufzufinden, so suche man den Kranken gleichfalls nicht durch vieles<lb/>
Zureden, sondern durch Vorsetzen gewählter Speisen, die man ihm<lb/>
einsam überlässt und stillschweigend wieder wegnimmt, manchmal<lb/>
auch durch Beispiel von seinem Entschluss abzubringen. Gelingt es<lb/>
nicht bald, so schreite man nach einer kurzen Aufforderung ganz<lb/>
ruhig zur Anwendung von Zwangsmassregeln, indem man ihm anfangs<lb/>
die Speisen, nöthigenfalls mit Zuhalten der Nase einfach aufnöthigt,<lb/>
bei noch grösserer Hartnäckigkeit die Schlundsonde anwendet. Bei<lb/>
lange dauernder Speiseverweigerung nehme man übrigens zuerst keine<lb/>
reizenden Flüssigkeiten, wie Wein und dergl., sondern milde Sub-<lb/>
stanzen, Milch, Bouillon etc.</p><lb/>
              <p>Der <hi rendition="#g">Hang zur Masturbation</hi> ist höchst schwierig radical zu<lb/>
beseitigen, und doch gelingt kaum eine Heilung während seiner Fort-<lb/>
dauer. Die mechanischen Vorrichtungen erreichen ihren Zweck sel-<lb/>
ten vollständig; die Hauptsache ist die genaueste Aufsicht auf den<lb/>
Kranken, der keinen Augenblick allein sein darf, Arbeit oder<lb/>
Spaziergänge bis zur Ermüdung, etwas knappe Kost, kühle Bäder, ein<lb/>
hartes Lager, bei Einzelnen die consequenteste Strenge. Die Ursachen<lb/>
dieser Gewohnheiten bedürfen oft einer arzneilichen Behandlung;<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[379/0393] Behandlung einzelner Symptome. Für den paralytischen Blödsinn gibt es keine Therapie. Einzelne Beobachter wollen vom Glüheisen, andere von der metho- disch und lange fortgesetzten Anwendung trockener oder nur ein Minimum von Blut entleerender Schröpfköpfe im Nacken einzelne spärliche Erfolge gesehen haben. Strengste Reinlichkeit (übrigens mit Ausschluss aller Bäder), gewählte kräftige Diät, am Ende nur aus weichen und halbflüssigen Speisen bestehend, vor Allem reine Luft und möglichster Aufenthalt im Freien, im Uebrigen alle Sorgfalt, die dem zarten Kindesalter nothwendig ist, sind das Einzige, was das Leben dieser Unglücklichen noch verlängern und erträglicher ma- chen kann. §. 184. Bei auffallenden Hallucinationen werde das betreffende Sinnes- organ genau untersucht, unter Umständen das Ohr durch Injectionen gereinigt, und man kann hier einzelne Versuche mit Abhaltung der Sinnesreize, mit Blutegeln, Ableitungen auf die Haut, Datura etc. machen. Auch bei Nahrungsverweigerung muss zuerst die Mundhöhle untersucht werden, da jene zuweilen durch Entzündung der Schleim- haut, durch Angina und dergl. veranlasst werden kann; ist nichts solches aufzufinden, so suche man den Kranken gleichfalls nicht durch vieles Zureden, sondern durch Vorsetzen gewählter Speisen, die man ihm einsam überlässt und stillschweigend wieder wegnimmt, manchmal auch durch Beispiel von seinem Entschluss abzubringen. Gelingt es nicht bald, so schreite man nach einer kurzen Aufforderung ganz ruhig zur Anwendung von Zwangsmassregeln, indem man ihm anfangs die Speisen, nöthigenfalls mit Zuhalten der Nase einfach aufnöthigt, bei noch grösserer Hartnäckigkeit die Schlundsonde anwendet. Bei lange dauernder Speiseverweigerung nehme man übrigens zuerst keine reizenden Flüssigkeiten, wie Wein und dergl., sondern milde Sub- stanzen, Milch, Bouillon etc. Der Hang zur Masturbation ist höchst schwierig radical zu beseitigen, und doch gelingt kaum eine Heilung während seiner Fort- dauer. Die mechanischen Vorrichtungen erreichen ihren Zweck sel- ten vollständig; die Hauptsache ist die genaueste Aufsicht auf den Kranken, der keinen Augenblick allein sein darf, Arbeit oder Spaziergänge bis zur Ermüdung, etwas knappe Kost, kühle Bäder, ein hartes Lager, bei Einzelnen die consequenteste Strenge. Die Ursachen dieser Gewohnheiten bedürfen oft einer arzneilichen Behandlung;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/393
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/393>, abgerufen am 22.12.2024.