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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Musik. Zerstreuungen. Besuche.
Er ist ein ernsteres Zerstreuungsmittel, durch welches ganz vernach-
lässigten Kranken allerdings auch die Elemente geistiger Bildung bei-
gebracht werden können. Wie alles, was das Gehirn erregt, darf
solche Beschäftigung nur eine verhältnissmässig kurze Zeit in An-
spruch nehmen; die Lehrobjecte sind nach Alter, Geschlecht und
Bildung verschieden, Elementar-Unterricht, Musik, Geschichte etc.
Solcher Unterricht kann mit Auswendiglernen verbunden, er kann als
ein wechselseitiger, indem sich der gebildetere Kranke des ungebil-
deten annimmt, mit Vortheil betrieben, und immer muss er durch
Gegenstand, Lehrer und Methode den Kranken anziehend gemacht
werden.

Von den Einwirkungen der Musik hat man sich manchmal zu
vieles versprochen; die durch sie erregten Stimmungen sind zu flüch
tig, um auf die Dauer der krankhaften Stimmung entgegenzutreten,
und die Musik hat nur dann eine die sonstigen Zerstreuungsmittel
übertreffende Wirkung, wenn sie von dem Kranken selbst mit Nei-
gung ausgeübt wird; gemeinsame Gesangübungen sind den Irrenan-
stalten höchlich zu empfehlen.

Ausserdem dienen zur Zerstreuung und Ableitung des Kranken
Gespräche, Lectüre, Spaziergänge, Spiele, Gesellschaft und heitere
Zusammenkünfte, Alles in höchst verschiedenen Modificationen nach
den Individualitäten.

Die Besuche bei den Kranken bedürfen -- abgesehen von
jedem Ausschluss Neugieriger -- immer einer besonderen Erwägung.
In den ersten Perioden und bei noch zunehmender Krankheit sind
Besuche der Angehörigen gewöhnlich schädlich, theils indem sie der
so häufigen Abneigung des Kranken gegen die Seinigen wieder
Nahrung geben und manche ihn irritirende Erinnerungen wieder
heraufziehen, theils indem sie die so höchst nothwendige Angewöh-
nung und Ergebung des Kranken an den Aufenthalt in der Irrenanstalt
hindern und ihm Heimweh erregen. Dagegen tragen in ruhigen Zei-
ten, bei wieder erwachenden gesunden Neigungen die Besuche vie-
les zur Aufklärung und Kräftigung des Kranken, noch mehr des be-
ginnenden Reconvalescenten bei; oft findet ein solcher durch einen
einzigen Besuch schnell die richtige Ansicht über sich selbst, seine
Krankheit und seine Stellung zur Welt wieder.

§. 180.

Die Hülfe der Religion bei der Irrenbehandlung ist nicht ge-
ring zu schätzen; die Handhabung dieses Mittels bedarf aber grosser

Musik. Zerstreuungen. Besuche.
Er ist ein ernsteres Zerstreuungsmittel, durch welches ganz vernach-
lässigten Kranken allerdings auch die Elemente geistiger Bildung bei-
gebracht werden können. Wie alles, was das Gehirn erregt, darf
solche Beschäftigung nur eine verhältnissmässig kurze Zeit in An-
spruch nehmen; die Lehrobjecte sind nach Alter, Geschlecht und
Bildung verschieden, Elementar-Unterricht, Musik, Geschichte etc.
Solcher Unterricht kann mit Auswendiglernen verbunden, er kann als
ein wechselseitiger, indem sich der gebildetere Kranke des ungebil-
deten annimmt, mit Vortheil betrieben, und immer muss er durch
Gegenstand, Lehrer und Methode den Kranken anziehend gemacht
werden.

Von den Einwirkungen der Musik hat man sich manchmal zu
vieles versprochen; die durch sie erregten Stimmungen sind zu flüch
tig, um auf die Dauer der krankhaften Stimmung entgegenzutreten,
und die Musik hat nur dann eine die sonstigen Zerstreuungsmittel
übertreffende Wirkung, wenn sie von dem Kranken selbst mit Nei-
gung ausgeübt wird; gemeinsame Gesangübungen sind den Irrenan-
stalten höchlich zu empfehlen.

Ausserdem dienen zur Zerstreuung und Ableitung des Kranken
Gespräche, Lectüre, Spaziergänge, Spiele, Gesellschaft und heitere
Zusammenkünfte, Alles in höchst verschiedenen Modificationen nach
den Individualitäten.

Die Besuche bei den Kranken bedürfen — abgesehen von
jedem Ausschluss Neugieriger — immer einer besonderen Erwägung.
In den ersten Perioden und bei noch zunehmender Krankheit sind
Besuche der Angehörigen gewöhnlich schädlich, theils indem sie der
so häufigen Abneigung des Kranken gegen die Seinigen wieder
Nahrung geben und manche ihn irritirende Erinnerungen wieder
heraufziehen, theils indem sie die so höchst nothwendige Angewöh-
nung und Ergebung des Kranken an den Aufenthalt in der Irrenanstalt
hindern und ihm Heimweh erregen. Dagegen tragen in ruhigen Zei-
ten, bei wieder erwachenden gesunden Neigungen die Besuche vie-
les zur Aufklärung und Kräftigung des Kranken, noch mehr des be-
ginnenden Reconvalescenten bei; oft findet ein solcher durch einen
einzigen Besuch schnell die richtige Ansicht über sich selbst, seine
Krankheit und seine Stellung zur Welt wieder.

§. 180.

Die Hülfe der Religion bei der Irrenbehandlung ist nicht ge-
ring zu schätzen; die Handhabung dieses Mittels bedarf aber grosser

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[370/0384] Musik. Zerstreuungen. Besuche. Er ist ein ernsteres Zerstreuungsmittel, durch welches ganz vernach- lässigten Kranken allerdings auch die Elemente geistiger Bildung bei- gebracht werden können. Wie alles, was das Gehirn erregt, darf solche Beschäftigung nur eine verhältnissmässig kurze Zeit in An- spruch nehmen; die Lehrobjecte sind nach Alter, Geschlecht und Bildung verschieden, Elementar-Unterricht, Musik, Geschichte etc. Solcher Unterricht kann mit Auswendiglernen verbunden, er kann als ein wechselseitiger, indem sich der gebildetere Kranke des ungebil- deten annimmt, mit Vortheil betrieben, und immer muss er durch Gegenstand, Lehrer und Methode den Kranken anziehend gemacht werden. Von den Einwirkungen der Musik hat man sich manchmal zu vieles versprochen; die durch sie erregten Stimmungen sind zu flüch tig, um auf die Dauer der krankhaften Stimmung entgegenzutreten, und die Musik hat nur dann eine die sonstigen Zerstreuungsmittel übertreffende Wirkung, wenn sie von dem Kranken selbst mit Nei- gung ausgeübt wird; gemeinsame Gesangübungen sind den Irrenan- stalten höchlich zu empfehlen. Ausserdem dienen zur Zerstreuung und Ableitung des Kranken Gespräche, Lectüre, Spaziergänge, Spiele, Gesellschaft und heitere Zusammenkünfte, Alles in höchst verschiedenen Modificationen nach den Individualitäten. Die Besuche bei den Kranken bedürfen — abgesehen von jedem Ausschluss Neugieriger — immer einer besonderen Erwägung. In den ersten Perioden und bei noch zunehmender Krankheit sind Besuche der Angehörigen gewöhnlich schädlich, theils indem sie der so häufigen Abneigung des Kranken gegen die Seinigen wieder Nahrung geben und manche ihn irritirende Erinnerungen wieder heraufziehen, theils indem sie die so höchst nothwendige Angewöh- nung und Ergebung des Kranken an den Aufenthalt in der Irrenanstalt hindern und ihm Heimweh erregen. Dagegen tragen in ruhigen Zei- ten, bei wieder erwachenden gesunden Neigungen die Besuche vie- les zur Aufklärung und Kräftigung des Kranken, noch mehr des be- ginnenden Reconvalescenten bei; oft findet ein solcher durch einen einzigen Besuch schnell die richtige Ansicht über sich selbst, seine Krankheit und seine Stellung zur Welt wieder. §. 180. Die Hülfe der Religion bei der Irrenbehandlung ist nicht ge- ring zu schätzen; die Handhabung dieses Mittels bedarf aber grosser

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/384>, abgerufen am 23.11.2024.