Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Einheit der psychischen
abstracten philanthropischen Princips, sondern die practische Nütz-
lichkeit, die Successe der in seinem Sinne geführten Behandlung am
Bette des Kranken, in der Zelle des Tobenden müssen uns leiten.
Eben desshalb aber dürfen wir jene humanistischen Grundsätze auch
nur insoweit als Regeln anerkennen, als sie unsere Zwecke fördern,
und müssen uns erinnern, dass nicht dasjenige Verfahren mit Irren
das humane ist, welches dem individuellen Gefühle des Arztes oder
des Kranken wohlthut, sondern das, welches ihn heilt. Der
Grundsatz der practischen Nützlichkeit muss uns allein leiten; eine Zeit,
welche die allgemeine Anerkennung und Durchführung jener humanen
Principien als feststehende Errungenschaft besitzt, soll nicht im En-
thusiasmus einseitig werden, und die Psychiatrie soll nicht aus dem
Ernste einer Beobachtungswissenschaft heraus in süssliche Sentimen-
talität, die kaum den Laien besticht, gerathen. Solche Auswüchse
aber wollen sich gegenwärtig zeigen, und es ist bei manchen jetzt
lebhaft controversirten Fragen nothwendig, an die ersten richtigen
Grundsätze der ärztlichen Wissenschaft und Kunst zu erinnern.

§. 160.

Zunächst auch von der Thatsache des empirisch constatirten
Erfolges ist auszugehen, indem für die psychische und somati-
sche
Heilmethode eine absolut gleiche Berechtigung in Anspruch
genommen wird. Beide Wege der Einwirkung auf die Kranken
sind immer instinctiv verbunden worden; auch die einseitigste mo-
ralistische Auffassung vermochte niemals den Nutzen zweckmässiger
Arzneien, Bäder etc. zu bestreiten, während ebenso die tägliche
Beobachtung zeigen musste, wie fast keine Genesung ohne psychische
Mittel (bestehen sie auch nur in Arbeit, Ordnung etc.) consolidirt
werden kann. Trotz der Unabweislichkeit dieser practischen Forderung
aber ward es der Wissenschaft durch theoretische Voraussetzungen
schwer gemacht, das Resultat der Erfahrung, das Bedürfniss eines
unausgesetzten Zusammenwirkens psychischer und somatischer
Therapie im Grunde seiner Nothwendigkeit zu erkennen. "Declina-
tionen des Denkvermögens," so ward ironisch gefragt *), "sollen durch
Verdünnung eines atrabilarischen Bluts und durch Schmelzung stocken-
der Säfte im Pfortadersysteme berichtigt, Seelenschmerz mit Niesewurz,

*) Reil, Rhapsodieen, p. 139. Ebenso Leuret (Traitement moral. p. 153):
Was thun wir mit denen, die wir im Irrthum befangen glauben? -- Setzen wir
ihnen Blutegel, Purganzen, oder Einwürfe entgegen? -- Natürlich Einwürfe!! --

Einheit der psychischen
abstracten philanthropischen Princips, sondern die practische Nütz-
lichkeit, die Successe der in seinem Sinne geführten Behandlung am
Bette des Kranken, in der Zelle des Tobenden müssen uns leiten.
Eben desshalb aber dürfen wir jene humanistischen Grundsätze auch
nur insoweit als Regeln anerkennen, als sie unsere Zwecke fördern,
und müssen uns erinnern, dass nicht dasjenige Verfahren mit Irren
das humane ist, welches dem individuellen Gefühle des Arztes oder
des Kranken wohlthut, sondern das, welches ihn heilt. Der
Grundsatz der practischen Nützlichkeit muss uns allein leiten; eine Zeit,
welche die allgemeine Anerkennung und Durchführung jener humanen
Principien als feststehende Errungenschaft besitzt, soll nicht im En-
thusiasmus einseitig werden, und die Psychiatrie soll nicht aus dem
Ernste einer Beobachtungswissenschaft heraus in süssliche Sentimen-
talität, die kaum den Laien besticht, gerathen. Solche Auswüchse
aber wollen sich gegenwärtig zeigen, und es ist bei manchen jetzt
lebhaft controversirten Fragen nothwendig, an die ersten richtigen
Grundsätze der ärztlichen Wissenschaft und Kunst zu erinnern.

§. 160.

Zunächst auch von der Thatsache des empirisch constatirten
Erfolges ist auszugehen, indem für die psychische und somati-
sche
Heilmethode eine absolut gleiche Berechtigung in Anspruch
genommen wird. Beide Wege der Einwirkung auf die Kranken
sind immer instinctiv verbunden worden; auch die einseitigste mo-
ralistische Auffassung vermochte niemals den Nutzen zweckmässiger
Arzneien, Bäder etc. zu bestreiten, während ebenso die tägliche
Beobachtung zeigen musste, wie fast keine Genesung ohne psychische
Mittel (bestehen sie auch nur in Arbeit, Ordnung etc.) consolidirt
werden kann. Trotz der Unabweislichkeit dieser practischen Forderung
aber ward es der Wissenschaft durch theoretische Voraussetzungen
schwer gemacht, das Resultat der Erfahrung, das Bedürfniss eines
unausgesetzten Zusammenwirkens psychischer und somatischer
Therapie im Grunde seiner Nothwendigkeit zu erkennen. „Declina-
tionen des Denkvermögens,“ so ward ironisch gefragt *), „sollen durch
Verdünnung eines atrabilarischen Bluts und durch Schmelzung stocken-
der Säfte im Pfortadersysteme berichtigt, Seelenschmerz mit Niesewurz,

*) Reil, Rhapsodieen, p. 139. Ebenso Leuret (Traitement moral. p. 153):
Was thun wir mit denen, die wir im Irrthum befangen glauben? — Setzen wir
ihnen Blutegel, Purganzen, oder Einwürfe entgegen? — Natürlich Einwürfe!! —
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0356" n="342"/><fw place="top" type="header">Einheit der psychischen</fw><lb/>
abstracten philanthropischen Princips, sondern die practische Nütz-<lb/>
lichkeit, die Successe der in seinem Sinne geführten Behandlung am<lb/>
Bette des Kranken, in der Zelle des Tobenden müssen uns leiten.<lb/>
Eben desshalb aber dürfen wir jene humanistischen Grundsätze auch<lb/>
nur <hi rendition="#g">insoweit</hi> als Regeln anerkennen, als sie unsere Zwecke fördern,<lb/>
und müssen uns erinnern, dass nicht dasjenige Verfahren mit Irren<lb/>
das humane ist, welches dem individuellen Gefühle des Arztes oder<lb/>
des Kranken wohlthut, sondern das, <hi rendition="#g">welches ihn heilt</hi>. Der<lb/>
Grundsatz der practischen Nützlichkeit muss uns allein leiten; eine Zeit,<lb/>
welche die allgemeine Anerkennung und Durchführung jener humanen<lb/>
Principien als feststehende Errungenschaft besitzt, soll nicht im En-<lb/>
thusiasmus einseitig werden, und die Psychiatrie soll nicht aus dem<lb/>
Ernste einer Beobachtungswissenschaft heraus in süssliche Sentimen-<lb/>
talität, die kaum den Laien besticht, gerathen. Solche Auswüchse<lb/>
aber wollen sich gegenwärtig zeigen, und es ist bei manchen jetzt<lb/>
lebhaft controversirten Fragen nothwendig, an die ersten richtigen<lb/>
Grundsätze der ärztlichen Wissenschaft und Kunst zu erinnern.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 160.</head><lb/>
              <p>Zunächst auch von der Thatsache des empirisch constatirten<lb/>
Erfolges ist auszugehen, indem für die <hi rendition="#g">psychische</hi> und <hi rendition="#g">somati-<lb/>
sche</hi> Heilmethode eine <hi rendition="#g">absolut gleiche Berechtigung</hi> in Anspruch<lb/>
genommen wird. Beide Wege der Einwirkung auf die Kranken<lb/>
sind immer instinctiv verbunden worden; auch die einseitigste mo-<lb/>
ralistische Auffassung vermochte niemals den Nutzen zweckmässiger<lb/>
Arzneien, Bäder etc. zu bestreiten, während ebenso die tägliche<lb/>
Beobachtung zeigen musste, wie fast keine Genesung ohne psychische<lb/>
Mittel (bestehen sie auch nur in Arbeit, Ordnung etc.) consolidirt<lb/>
werden kann. Trotz der Unabweislichkeit dieser practischen Forderung<lb/>
aber ward es der Wissenschaft durch theoretische Voraussetzungen<lb/>
schwer gemacht, das Resultat der Erfahrung, das Bedürfniss eines<lb/>
unausgesetzten <hi rendition="#g">Zusammenwirkens</hi> psychischer und somatischer<lb/>
Therapie im Grunde seiner Nothwendigkeit zu erkennen. &#x201E;Declina-<lb/>
tionen des Denkvermögens,&#x201C; so ward ironisch gefragt <note place="foot" n="*)">Reil, Rhapsodieen, p. 139. Ebenso Leuret (Traitement moral. p. 153):<lb/>
Was thun wir mit denen, die wir im Irrthum befangen glauben? &#x2014; Setzen wir<lb/>
ihnen Blutegel, Purganzen, oder Einwürfe entgegen? &#x2014; Natürlich Einwürfe!! &#x2014;</note>, &#x201E;sollen durch<lb/>
Verdünnung eines atrabilarischen Bluts und durch Schmelzung stocken-<lb/>
der Säfte im Pfortadersysteme berichtigt, Seelenschmerz mit Niesewurz,<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[342/0356] Einheit der psychischen abstracten philanthropischen Princips, sondern die practische Nütz- lichkeit, die Successe der in seinem Sinne geführten Behandlung am Bette des Kranken, in der Zelle des Tobenden müssen uns leiten. Eben desshalb aber dürfen wir jene humanistischen Grundsätze auch nur insoweit als Regeln anerkennen, als sie unsere Zwecke fördern, und müssen uns erinnern, dass nicht dasjenige Verfahren mit Irren das humane ist, welches dem individuellen Gefühle des Arztes oder des Kranken wohlthut, sondern das, welches ihn heilt. Der Grundsatz der practischen Nützlichkeit muss uns allein leiten; eine Zeit, welche die allgemeine Anerkennung und Durchführung jener humanen Principien als feststehende Errungenschaft besitzt, soll nicht im En- thusiasmus einseitig werden, und die Psychiatrie soll nicht aus dem Ernste einer Beobachtungswissenschaft heraus in süssliche Sentimen- talität, die kaum den Laien besticht, gerathen. Solche Auswüchse aber wollen sich gegenwärtig zeigen, und es ist bei manchen jetzt lebhaft controversirten Fragen nothwendig, an die ersten richtigen Grundsätze der ärztlichen Wissenschaft und Kunst zu erinnern. §. 160. Zunächst auch von der Thatsache des empirisch constatirten Erfolges ist auszugehen, indem für die psychische und somati- sche Heilmethode eine absolut gleiche Berechtigung in Anspruch genommen wird. Beide Wege der Einwirkung auf die Kranken sind immer instinctiv verbunden worden; auch die einseitigste mo- ralistische Auffassung vermochte niemals den Nutzen zweckmässiger Arzneien, Bäder etc. zu bestreiten, während ebenso die tägliche Beobachtung zeigen musste, wie fast keine Genesung ohne psychische Mittel (bestehen sie auch nur in Arbeit, Ordnung etc.) consolidirt werden kann. Trotz der Unabweislichkeit dieser practischen Forderung aber ward es der Wissenschaft durch theoretische Voraussetzungen schwer gemacht, das Resultat der Erfahrung, das Bedürfniss eines unausgesetzten Zusammenwirkens psychischer und somatischer Therapie im Grunde seiner Nothwendigkeit zu erkennen. „Declina- tionen des Denkvermögens,“ so ward ironisch gefragt *), „sollen durch Verdünnung eines atrabilarischen Bluts und durch Schmelzung stocken- der Säfte im Pfortadersysteme berichtigt, Seelenschmerz mit Niesewurz, *) Reil, Rhapsodieen, p. 139. Ebenso Leuret (Traitement moral. p. 153): Was thun wir mit denen, die wir im Irrthum befangen glauben? — Setzen wir ihnen Blutegel, Purganzen, oder Einwürfe entgegen? — Natürlich Einwürfe!! —

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/356
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/356>, abgerufen am 22.12.2024.