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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Zweiter Abschnitt.
Therapie.
Erstes Capitel.
Allgemeine Grundsätze.
§. 159.

Auch die Therapie der psychischen Krankheiten hat in reichlichem
Masse die Macht theoretischer Voraussetzungen und den wechselnden
Einfluss einseitiger Systeme erfahren. Die alte Humoralpathologie ent-
leerte -- und entleert zum Theil heute noch -- schwarze Galle; die
Erregungstheorie suchte -- und sucht -- den Organismus im Ganzen
auf- oder abzuschrauben; die zur Entzündungspathologie eingeengte
Localisationslehre erklärt trotz des Widerspruchs mit der täglichen
Erfahrung die gewöhnliche Antiphlogose für die Grundlage ihrer
Therapie und ein ganz eigener Anhang wurde noch der Irrenbehand-
lung in den moralisirenden frömmelnden Auffassungen der psychischen
Therapie zu Theil. In Einem Grundsatze aber hat sich doch die
ganze neuere Psychiatrie zusammengefunden, in dem Grundsatze der
Humanität in der Irrenbehandlung im Gegensatze zu jener alten
Rohheit, welche die Geisteskranken bald mit Hexenprocessen und
Scheiterhaufen verfolgte, bald -- und noch im günstigeren Falle --
mit Verbrechern in die Kerker zusammengeworfen und dort die von
der ärztlichen Kunst wie von anderer menschlicher Hülfe Verlassenen
willkührlicher Grausamkeit und Brutalität preisgegeben hatte. Zwar
allerdings die immer mehr durchdringende Erkenntniss des Irreseins
als einer Krankheit, zunächst aber und hauptsächlich der eigent-
liche Philanthropismus, der den Irren ihre Rechte vom Standpunkte
der allgemeinen Menschenrechte vindicirte, war es, der es durchsetzte,
dass die Gesellschaft in den Irren Menschen anerkannte, denen sie
Schutz und Hülfe schuldig ist, dass sie immer mehr zum Gegenstande
ernstlicher Fürsorge von Seiten des Staates und tieferer, zum Zwecke
der Heilung angestellter Forschung der Wissenschaft wurden. Der
Blick auf jene Zeit, und vor Allem auf die grossen Bestrebungen
Pinel's ist wohlthuend und erhebend für Jeden; wenn aber wir, wir
Aerzte von dem Humanitätsprincip unsere Praxis beherrschen lassen,
so thun wir diess zunächst wegen seiner empirischen Erfolge für
Erreichung unseres ersten und einzigen Zweckes, der Krankenheilung,
Erfolge, deren unvergleichlich günstiger Contrast mit dem früheren
Verfahren keiner weiteren Nachweisung bedarf. Nicht der Glanz eines

Zweiter Abschnitt.
Therapie.
Erstes Capitel.
Allgemeine Grundsätze.
§. 159.

Auch die Therapie der psychischen Krankheiten hat in reichlichem
Masse die Macht theoretischer Voraussetzungen und den wechselnden
Einfluss einseitiger Systeme erfahren. Die alte Humoralpathologie ent-
leerte — und entleert zum Theil heute noch — schwarze Galle; die
Erregungstheorie suchte — und sucht — den Organismus im Ganzen
auf- oder abzuschrauben; die zur Entzündungspathologie eingeengte
Localisationslehre erklärt trotz des Widerspruchs mit der täglichen
Erfahrung die gewöhnliche Antiphlogose für die Grundlage ihrer
Therapie und ein ganz eigener Anhang wurde noch der Irrenbehand-
lung in den moralisirenden frömmelnden Auffassungen der psychischen
Therapie zu Theil. In Einem Grundsatze aber hat sich doch die
ganze neuere Psychiatrie zusammengefunden, in dem Grundsatze der
Humanität in der Irrenbehandlung im Gegensatze zu jener alten
Rohheit, welche die Geisteskranken bald mit Hexenprocessen und
Scheiterhaufen verfolgte, bald — und noch im günstigeren Falle —
mit Verbrechern in die Kerker zusammengeworfen und dort die von
der ärztlichen Kunst wie von anderer menschlicher Hülfe Verlassenen
willkührlicher Grausamkeit und Brutalität preisgegeben hatte. Zwar
allerdings die immer mehr durchdringende Erkenntniss des Irreseins
als einer Krankheit, zunächst aber und hauptsächlich der eigent-
liche Philanthropismus, der den Irren ihre Rechte vom Standpunkte
der allgemeinen Menschenrechte vindicirte, war es, der es durchsetzte,
dass die Gesellschaft in den Irren Menschen anerkannte, denen sie
Schutz und Hülfe schuldig ist, dass sie immer mehr zum Gegenstande
ernstlicher Fürsorge von Seiten des Staates und tieferer, zum Zwecke
der Heilung angestellter Forschung der Wissenschaft wurden. Der
Blick auf jene Zeit, und vor Allem auf die grossen Bestrebungen
Pinel’s ist wohlthuend und erhebend für Jeden; wenn aber wir, wir
Aerzte von dem Humanitätsprincip unsere Praxis beherrschen lassen,
so thun wir diess zunächst wegen seiner empirischen Erfolge für
Erreichung unseres ersten und einzigen Zweckes, der Krankenheilung,
Erfolge, deren unvergleichlich günstiger Contrast mit dem früheren
Verfahren keiner weiteren Nachweisung bedarf. Nicht der Glanz eines

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[341/0355] Zweiter Abschnitt. Therapie. Erstes Capitel. Allgemeine Grundsätze. §. 159. Auch die Therapie der psychischen Krankheiten hat in reichlichem Masse die Macht theoretischer Voraussetzungen und den wechselnden Einfluss einseitiger Systeme erfahren. Die alte Humoralpathologie ent- leerte — und entleert zum Theil heute noch — schwarze Galle; die Erregungstheorie suchte — und sucht — den Organismus im Ganzen auf- oder abzuschrauben; die zur Entzündungspathologie eingeengte Localisationslehre erklärt trotz des Widerspruchs mit der täglichen Erfahrung die gewöhnliche Antiphlogose für die Grundlage ihrer Therapie und ein ganz eigener Anhang wurde noch der Irrenbehand- lung in den moralisirenden frömmelnden Auffassungen der psychischen Therapie zu Theil. In Einem Grundsatze aber hat sich doch die ganze neuere Psychiatrie zusammengefunden, in dem Grundsatze der Humanität in der Irrenbehandlung im Gegensatze zu jener alten Rohheit, welche die Geisteskranken bald mit Hexenprocessen und Scheiterhaufen verfolgte, bald — und noch im günstigeren Falle — mit Verbrechern in die Kerker zusammengeworfen und dort die von der ärztlichen Kunst wie von anderer menschlicher Hülfe Verlassenen willkührlicher Grausamkeit und Brutalität preisgegeben hatte. Zwar allerdings die immer mehr durchdringende Erkenntniss des Irreseins als einer Krankheit, zunächst aber und hauptsächlich der eigent- liche Philanthropismus, der den Irren ihre Rechte vom Standpunkte der allgemeinen Menschenrechte vindicirte, war es, der es durchsetzte, dass die Gesellschaft in den Irren Menschen anerkannte, denen sie Schutz und Hülfe schuldig ist, dass sie immer mehr zum Gegenstande ernstlicher Fürsorge von Seiten des Staates und tieferer, zum Zwecke der Heilung angestellter Forschung der Wissenschaft wurden. Der Blick auf jene Zeit, und vor Allem auf die grossen Bestrebungen Pinel’s ist wohlthuend und erhebend für Jeden; wenn aber wir, wir Aerzte von dem Humanitätsprincip unsere Praxis beherrschen lassen, so thun wir diess zunächst wegen seiner empirischen Erfolge für Erreichung unseres ersten und einzigen Zweckes, der Krankenheilung, Erfolge, deren unvergleichlich günstiger Contrast mit dem früheren Verfahren keiner weiteren Nachweisung bedarf. Nicht der Glanz eines

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/355>, abgerufen am 22.12.2024.