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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Lethalität der psychischen Krankheiten.
tödtlichem Ausgange setzen. -- Auch das Gehirnödem, namentlich
das schnell entstandene oder sehr lange fortdauernde kann zur Todes-
ursache werden; ebenso gehört in den melancholischen Zuständen
eine lange andauernde Nahrungsverweigerung (§. 174) zu den lebens-
gefährlichen Ereignissen. Ueberhaupt ist die Gefahr eines tödtlichen
Ausgangs weit grösser in den ersten Stadien, innerhalb der Formen
der frischen Manie und Melancholie, als in jenen Zuständen chronisch
gewordener Irritation oder mässiger, aber unheilbarer anatomischer
Veränderung des Gehirns, welche die Formen der chronisch fixir-
ten, verschleppten Manie oder Schwermuth mit dem Character
geistiger Schwäche oder die Form der Verrücktheit abgeben; diese
abgelaufenen, nur in ihren Residuen fortwirkenden Processe gestatten
an sich nicht nur eine noch lange Lebensdauer, es ist bei ihnen
auch gewöhnlich eine gegen die frühere Zeit der Erkrankung auffal-
lende Besserung des Allgemeinbefindens mit Zunahme der Ernährung
bemerklich; jede Pflege-Anstalt enthält solche schon seit vielen Jahr-
zehnten in ihr lebende Bewohner.

Eine Vergleichung der Mortalitätstatistiken in den verschiedenen Irrenan-
stalten könnte nur bei ausführlicher Erörterung aller Momente ihrer Verschie-
denheiten von einigem Interesse sein.

Die reinen Heilanstalten weisen immer eine grössere Sterblichkeit auf, als
die Pflege-Anstalten; denn die Mehrzahl der Todesfälle unter den Irren erfolgt
in den ersten 12--18 Monaten der Krankheit; das frische, acute Gehirnleiden,
die anderweitigen schweren Erkrankungen, als deren spätere Complication das Irre-
sein auftreten kann, die in dieser Periode häufige Tobsucht, der oft frühe Beginn
der allgemeinen Paralyse begründen diese Thatsache. Häufigeres Vorkommen
dieser Complication vermag die Mortalitätstatistik in verschiedenen Ländern und
Anstalten am meisten zu modificiren; sie ist es auch, welche im Durchschnitt
eine grössere Sterblichkeit unter den Männern als unter den Weibern verursacht.
Bedlam, wo zwar kein über ein Jahr alter Fall, aber auch kein Epileptischer
oder Paralytischer, ja kein Tobsüchtiger aufgenommen wird (Julius l. c.) und
wo kein Kranker über ein Jahr lang verbleibt, hat eine Mortalität von 6--9
Procent, St. Yon, eine gemischte Anstalt, von über 7, Winnenthal, eine fast reine
Heilanstalt von 11, Hanwell von 12, die englischen Armenanstalten von 27 *),
die Antiquaille in Lyon **) von 30 Procenten. Es wäre ermüdend und unaus-
führbar, hier die einzelnen Umstände abzuschätzen, welche die bedeutenden Diffe-
renzen dieser Beispiels halber angeführten Zahlen begründen.

*) Farr, Oppenheims Zeitschrift XXI. p. 77.
**) Bottex, Rapport etc. 1839.

Lethalität der psychischen Krankheiten.
tödtlichem Ausgange setzen. — Auch das Gehirnödem, namentlich
das schnell entstandene oder sehr lange fortdauernde kann zur Todes-
ursache werden; ebenso gehört in den melancholischen Zuständen
eine lange andauernde Nahrungsverweigerung (§. 174) zu den lebens-
gefährlichen Ereignissen. Ueberhaupt ist die Gefahr eines tödtlichen
Ausgangs weit grösser in den ersten Stadien, innerhalb der Formen
der frischen Manie und Melancholie, als in jenen Zuständen chronisch
gewordener Irritation oder mässiger, aber unheilbarer anatomischer
Veränderung des Gehirns, welche die Formen der chronisch fixir-
ten, verschleppten Manie oder Schwermuth mit dem Character
geistiger Schwäche oder die Form der Verrücktheit abgeben; diese
abgelaufenen, nur in ihren Residuen fortwirkenden Processe gestatten
an sich nicht nur eine noch lange Lebensdauer, es ist bei ihnen
auch gewöhnlich eine gegen die frühere Zeit der Erkrankung auffal-
lende Besserung des Allgemeinbefindens mit Zunahme der Ernährung
bemerklich; jede Pflege-Anstalt enthält solche schon seit vielen Jahr-
zehnten in ihr lebende Bewohner.

Eine Vergleichung der Mortalitätstatistiken in den verschiedenen Irrenan-
stalten könnte nur bei ausführlicher Erörterung aller Momente ihrer Verschie-
denheiten von einigem Interesse sein.

Die reinen Heilanstalten weisen immer eine grössere Sterblichkeit auf, als
die Pflege-Anstalten; denn die Mehrzahl der Todesfälle unter den Irren erfolgt
in den ersten 12—18 Monaten der Krankheit; das frische, acute Gehirnleiden,
die anderweitigen schweren Erkrankungen, als deren spätere Complication das Irre-
sein auftreten kann, die in dieser Periode häufige Tobsucht, der oft frühe Beginn
der allgemeinen Paralyse begründen diese Thatsache. Häufigeres Vorkommen
dieser Complication vermag die Mortalitätstatistik in verschiedenen Ländern und
Anstalten am meisten zu modificiren; sie ist es auch, welche im Durchschnitt
eine grössere Sterblichkeit unter den Männern als unter den Weibern verursacht.
Bedlam, wo zwar kein über ein Jahr alter Fall, aber auch kein Epileptischer
oder Paralytischer, ja kein Tobsüchtiger aufgenommen wird (Julius l. c.) und
wo kein Kranker über ein Jahr lang verbleibt, hat eine Mortalität von 6—9
Procent, St. Yon, eine gemischte Anstalt, von über 7, Winnenthal, eine fast reine
Heilanstalt von 11, Hanwell von 12, die englischen Armenanstalten von 27 *),
die Antiquaille in Lyon **) von 30 Procenten. Es wäre ermüdend und unaus-
führbar, hier die einzelnen Umstände abzuschätzen, welche die bedeutenden Diffe-
renzen dieser Beispiels halber angeführten Zahlen begründen.

*) Farr, Oppenheims Zeitschrift XXI. p. 77.
**) Bottex, Rapport etc. 1839.
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[331/0345] Lethalität der psychischen Krankheiten. tödtlichem Ausgange setzen. — Auch das Gehirnödem, namentlich das schnell entstandene oder sehr lange fortdauernde kann zur Todes- ursache werden; ebenso gehört in den melancholischen Zuständen eine lange andauernde Nahrungsverweigerung (§. 174) zu den lebens- gefährlichen Ereignissen. Ueberhaupt ist die Gefahr eines tödtlichen Ausgangs weit grösser in den ersten Stadien, innerhalb der Formen der frischen Manie und Melancholie, als in jenen Zuständen chronisch gewordener Irritation oder mässiger, aber unheilbarer anatomischer Veränderung des Gehirns, welche die Formen der chronisch fixir- ten, verschleppten Manie oder Schwermuth mit dem Character geistiger Schwäche oder die Form der Verrücktheit abgeben; diese abgelaufenen, nur in ihren Residuen fortwirkenden Processe gestatten an sich nicht nur eine noch lange Lebensdauer, es ist bei ihnen auch gewöhnlich eine gegen die frühere Zeit der Erkrankung auffal- lende Besserung des Allgemeinbefindens mit Zunahme der Ernährung bemerklich; jede Pflege-Anstalt enthält solche schon seit vielen Jahr- zehnten in ihr lebende Bewohner. Eine Vergleichung der Mortalitätstatistiken in den verschiedenen Irrenan- stalten könnte nur bei ausführlicher Erörterung aller Momente ihrer Verschie- denheiten von einigem Interesse sein. Die reinen Heilanstalten weisen immer eine grössere Sterblichkeit auf, als die Pflege-Anstalten; denn die Mehrzahl der Todesfälle unter den Irren erfolgt in den ersten 12—18 Monaten der Krankheit; das frische, acute Gehirnleiden, die anderweitigen schweren Erkrankungen, als deren spätere Complication das Irre- sein auftreten kann, die in dieser Periode häufige Tobsucht, der oft frühe Beginn der allgemeinen Paralyse begründen diese Thatsache. Häufigeres Vorkommen dieser Complication vermag die Mortalitätstatistik in verschiedenen Ländern und Anstalten am meisten zu modificiren; sie ist es auch, welche im Durchschnitt eine grössere Sterblichkeit unter den Männern als unter den Weibern verursacht. Bedlam, wo zwar kein über ein Jahr alter Fall, aber auch kein Epileptischer oder Paralytischer, ja kein Tobsüchtiger aufgenommen wird (Julius l. c.) und wo kein Kranker über ein Jahr lang verbleibt, hat eine Mortalität von 6—9 Procent, St. Yon, eine gemischte Anstalt, von über 7, Winnenthal, eine fast reine Heilanstalt von 11, Hanwell von 12, die englischen Armenanstalten von 27 *), die Antiquaille in Lyon **) von 30 Procenten. Es wäre ermüdend und unaus- führbar, hier die einzelnen Umstände abzuschätzen, welche die bedeutenden Diffe- renzen dieser Beispiels halber angeführten Zahlen begründen. *) Farr, Oppenheims Zeitschrift XXI. p. 77. **) Bottex, Rapport etc. 1839.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/345>, abgerufen am 23.11.2024.