Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Vorstellen und die Empfindung.
Vorstellen, wenn es nur etwas deutlich sein soll, muss beständig
begleitet sein von etwas der Sinnesthätigkeit Angehörendem, von ab-
geblassten und leisen Sinnesbildern. Das deutlichste und klarste
Vorstellen ist dasjenige, welches mit Beihülfe des Gesichtssinns ge-
schieht, in welches Gesichtsbilder wesentlich mit eingehen, von dem
auch die Vermuthung am nächsten liegt, dass es dem Ganglion des
N. opticus, dem grossen Gehirn, angehöre (beim Vorstellen der Thiere,
wo sich der Geruchsnerv in sehr starken Ausbreitungen auf der Ven-
trikularwandung verbreitet, mögen wohl Geruchsbilder eine sehr grosse
Rolle spielen). Dagegen ist das Vorstellen in blossen Klangbildern
(z. B. das musikalische Vorstellen) ein durchaus vages, unbestimmtes
und unaussprechliches, und merkwürdigerweise haben wir auch für
jenes Vorstellen, das nur in Gesammteindrücken aus vielen ähnlichen
Gegenständen besteht, worin das concrete Einzelne verwischt ist und
für die es daher niemals eine erschöpfend adäquate Anschauung geben
kann, nämlich für das begriffliche Vorstellen, kein anderes Mittel des
Ausdrucks, als wieder Klangbilder, die Worte.

Die Sprache ist ein viel zu complicirter Process, um sich an einzelnen Orten
des Gehirns localisiren zu lassen. Einzelne Theile am untern Anfang des Ge-
hirns, die Oberfläche des vierten Ventrikels, die beim Menschen vollkommener
als bei allen Thieren entwickelten Oliven mögen wohl in naher Beziehung zum
Ausdruck der Vorstellungen und zur Articulation stehen; jedenfalls aber sind
noch andere Theile, und namentlich die vordere Parthie der Hemisphären, für
die Sprache sehr wichtig.

Was das kleine Gehirn betrifft, so spricht vieles für eine nähere Beziehung
desselben zu den Affecten, namentlich zu den schmerzlichen, deprimirenden. Das
Weinen und die Schamröthe scheinen direct von Zuständen des N. Quintus ab-
zuhängen; die Erregung des N. Acusticus durch Musik setzt kein klares Vor-
stellen, sondern nur lebhaftere oder leisere affectartige Zustände. Die Genitalien-
krankheiten, schon die Menstruation, erregen ganz gewöhnlich psychische Ver-
stimmung, und andrerseits werden durch Angst, Schrecken, Mitleid in den Geni-
talien, der Blase, dem Mastdarm, lauter Organen, die in einem experimental
nachweisbaren Verhältnisse zum Cerebellum stehen, Empfindungen und Bewegungen
hervorgerufen.*)

§. 15.

Eine Vergleichung des geistigen Geschehens innerhalb des Vor-
stellens mit dem Geschehen innerhalb der sinnlichen Empfindung zeigt
uns viele wichtige Aehnlichkeiten und wieder einzelne Differenzen
in beiden Prozessen, die der Beachtung werth und von ergiebigen
Consequenzen für das Verständniss des Irreseins sind.

*) S. hierüber die mehrfachen Arbeiten von Budge.

Das Vorstellen und die Empfindung.
Vorstellen, wenn es nur etwas deutlich sein soll, muss beständig
begleitet sein von etwas der Sinnesthätigkeit Angehörendem, von ab-
geblassten und leisen Sinnesbildern. Das deutlichste und klarste
Vorstellen ist dasjenige, welches mit Beihülfe des Gesichtssinns ge-
schieht, in welches Gesichtsbilder wesentlich mit eingehen, von dem
auch die Vermuthung am nächsten liegt, dass es dem Ganglion des
N. opticus, dem grossen Gehirn, angehöre (beim Vorstellen der Thiere,
wo sich der Geruchsnerv in sehr starken Ausbreitungen auf der Ven-
trikularwandung verbreitet, mögen wohl Geruchsbilder eine sehr grosse
Rolle spielen). Dagegen ist das Vorstellen in blossen Klangbildern
(z. B. das musikalische Vorstellen) ein durchaus vages, unbestimmtes
und unaussprechliches, und merkwürdigerweise haben wir auch für
jenes Vorstellen, das nur in Gesammteindrücken aus vielen ähnlichen
Gegenständen besteht, worin das concrete Einzelne verwischt ist und
für die es daher niemals eine erschöpfend adäquate Anschauung geben
kann, nämlich für das begriffliche Vorstellen, kein anderes Mittel des
Ausdrucks, als wieder Klangbilder, die Worte.

Die Sprache ist ein viel zu complicirter Process, um sich an einzelnen Orten
des Gehirns localisiren zu lassen. Einzelne Theile am untern Anfang des Ge-
hirns, die Oberfläche des vierten Ventrikels, die beim Menschen vollkommener
als bei allen Thieren entwickelten Oliven mögen wohl in naher Beziehung zum
Ausdruck der Vorstellungen und zur Articulation stehen; jedenfalls aber sind
noch andere Theile, und namentlich die vordere Parthie der Hemisphären, für
die Sprache sehr wichtig.

Was das kleine Gehirn betrifft, so spricht vieles für eine nähere Beziehung
desselben zu den Affecten, namentlich zu den schmerzlichen, deprimirenden. Das
Weinen und die Schamröthe scheinen direct von Zuständen des N. Quintus ab-
zuhängen; die Erregung des N. Acusticus durch Musik setzt kein klares Vor-
stellen, sondern nur lebhaftere oder leisere affectartige Zustände. Die Genitalien-
krankheiten, schon die Menstruation, erregen ganz gewöhnlich psychische Ver-
stimmung, und andrerseits werden durch Angst, Schrecken, Mitleid in den Geni-
talien, der Blase, dem Mastdarm, lauter Organen, die in einem experimental
nachweisbaren Verhältnisse zum Cerebellum stehen, Empfindungen und Bewegungen
hervorgerufen.*)

§. 15.

Eine Vergleichung des geistigen Geschehens innerhalb des Vor-
stellens mit dem Geschehen innerhalb der sinnlichen Empfindung zeigt
uns viele wichtige Aehnlichkeiten und wieder einzelne Differenzen
in beiden Prozessen, die der Beachtung werth und von ergiebigen
Consequenzen für das Verständniss des Irreseins sind.

*) S. hierüber die mehrfachen Arbeiten von Budge.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0034" n="20"/><fw place="top" type="header">Das Vorstellen und die Empfindung.</fw><lb/>
Vorstellen, wenn es nur etwas deutlich sein soll, muss beständig<lb/>
begleitet sein von etwas der Sinnesthätigkeit Angehörendem, von ab-<lb/>
geblassten und leisen Sinnesbildern. Das deutlichste und klarste<lb/>
Vorstellen ist dasjenige, welches mit Beihülfe des Gesichtssinns ge-<lb/>
schieht, in welches Gesichtsbilder wesentlich mit eingehen, von dem<lb/>
auch die Vermuthung am nächsten liegt, dass es dem Ganglion des<lb/>
N. opticus, dem grossen Gehirn, angehöre (beim Vorstellen der Thiere,<lb/>
wo sich der Geruchsnerv in sehr starken Ausbreitungen auf der Ven-<lb/>
trikularwandung verbreitet, mögen wohl Geruchsbilder eine sehr grosse<lb/>
Rolle spielen). Dagegen ist das Vorstellen in blossen Klangbildern<lb/>
(z. B. das musikalische Vorstellen) ein durchaus vages, unbestimmtes<lb/>
und unaussprechliches, und merkwürdigerweise haben wir auch für<lb/>
jenes Vorstellen, das nur in Gesammteindrücken aus vielen ähnlichen<lb/>
Gegenständen besteht, worin das concrete Einzelne verwischt ist und<lb/>
für die es daher niemals eine erschöpfend adäquate Anschauung geben<lb/>
kann, nämlich für das begriffliche Vorstellen, kein anderes Mittel des<lb/>
Ausdrucks, als wieder Klangbilder, die <hi rendition="#g">Worte</hi>.</p><lb/>
            <p>Die Sprache ist ein viel zu complicirter Process, um sich an einzelnen Orten<lb/>
des Gehirns localisiren zu lassen. Einzelne Theile am untern Anfang des Ge-<lb/>
hirns, die Oberfläche des vierten Ventrikels, die beim Menschen vollkommener<lb/>
als bei allen Thieren entwickelten Oliven mögen wohl in naher Beziehung zum<lb/>
Ausdruck der Vorstellungen und zur Articulation stehen; jedenfalls aber sind<lb/>
noch andere Theile, und namentlich die vordere Parthie der Hemisphären, für<lb/>
die Sprache sehr wichtig.</p><lb/>
            <p>Was das kleine Gehirn betrifft, so spricht vieles für eine nähere Beziehung<lb/>
desselben zu den Affecten, namentlich zu den schmerzlichen, deprimirenden. Das<lb/>
Weinen und die Schamröthe scheinen direct von Zuständen des N. Quintus ab-<lb/>
zuhängen; die Erregung des N. Acusticus durch Musik setzt kein klares Vor-<lb/>
stellen, sondern nur lebhaftere oder leisere affectartige Zustände. Die Genitalien-<lb/>
krankheiten, schon die Menstruation, erregen ganz gewöhnlich psychische Ver-<lb/>
stimmung, und andrerseits werden durch Angst, Schrecken, Mitleid in den Geni-<lb/>
talien, der Blase, dem Mastdarm, lauter Organen, die in einem experimental<lb/>
nachweisbaren Verhältnisse zum Cerebellum stehen, Empfindungen und Bewegungen<lb/>
hervorgerufen.<note place="foot" n="*)">S. hierüber die mehrfachen Arbeiten von Budge.</note></p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 15.</head><lb/>
            <p>Eine Vergleichung des geistigen Geschehens innerhalb des Vor-<lb/>
stellens mit dem Geschehen innerhalb der sinnlichen Empfindung zeigt<lb/>
uns viele wichtige Aehnlichkeiten und wieder einzelne Differenzen<lb/>
in beiden Prozessen, die der Beachtung werth und von ergiebigen<lb/>
Consequenzen für das Verständniss des Irreseins sind.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[20/0034] Das Vorstellen und die Empfindung. Vorstellen, wenn es nur etwas deutlich sein soll, muss beständig begleitet sein von etwas der Sinnesthätigkeit Angehörendem, von ab- geblassten und leisen Sinnesbildern. Das deutlichste und klarste Vorstellen ist dasjenige, welches mit Beihülfe des Gesichtssinns ge- schieht, in welches Gesichtsbilder wesentlich mit eingehen, von dem auch die Vermuthung am nächsten liegt, dass es dem Ganglion des N. opticus, dem grossen Gehirn, angehöre (beim Vorstellen der Thiere, wo sich der Geruchsnerv in sehr starken Ausbreitungen auf der Ven- trikularwandung verbreitet, mögen wohl Geruchsbilder eine sehr grosse Rolle spielen). Dagegen ist das Vorstellen in blossen Klangbildern (z. B. das musikalische Vorstellen) ein durchaus vages, unbestimmtes und unaussprechliches, und merkwürdigerweise haben wir auch für jenes Vorstellen, das nur in Gesammteindrücken aus vielen ähnlichen Gegenständen besteht, worin das concrete Einzelne verwischt ist und für die es daher niemals eine erschöpfend adäquate Anschauung geben kann, nämlich für das begriffliche Vorstellen, kein anderes Mittel des Ausdrucks, als wieder Klangbilder, die Worte. Die Sprache ist ein viel zu complicirter Process, um sich an einzelnen Orten des Gehirns localisiren zu lassen. Einzelne Theile am untern Anfang des Ge- hirns, die Oberfläche des vierten Ventrikels, die beim Menschen vollkommener als bei allen Thieren entwickelten Oliven mögen wohl in naher Beziehung zum Ausdruck der Vorstellungen und zur Articulation stehen; jedenfalls aber sind noch andere Theile, und namentlich die vordere Parthie der Hemisphären, für die Sprache sehr wichtig. Was das kleine Gehirn betrifft, so spricht vieles für eine nähere Beziehung desselben zu den Affecten, namentlich zu den schmerzlichen, deprimirenden. Das Weinen und die Schamröthe scheinen direct von Zuständen des N. Quintus ab- zuhängen; die Erregung des N. Acusticus durch Musik setzt kein klares Vor- stellen, sondern nur lebhaftere oder leisere affectartige Zustände. Die Genitalien- krankheiten, schon die Menstruation, erregen ganz gewöhnlich psychische Ver- stimmung, und andrerseits werden durch Angst, Schrecken, Mitleid in den Geni- talien, der Blase, dem Mastdarm, lauter Organen, die in einem experimental nachweisbaren Verhältnisse zum Cerebellum stehen, Empfindungen und Bewegungen hervorgerufen. *) §. 15. Eine Vergleichung des geistigen Geschehens innerhalb des Vor- stellens mit dem Geschehen innerhalb der sinnlichen Empfindung zeigt uns viele wichtige Aehnlichkeiten und wieder einzelne Differenzen in beiden Prozessen, die der Beachtung werth und von ergiebigen Consequenzen für das Verständniss des Irreseins sind. *) S. hierüber die mehrfachen Arbeiten von Budge.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/34
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/34>, abgerufen am 22.12.2024.