VIERTES BUCH. Die pathologische Anatomie der psychischen Krankheiten.
§. 135.
Wer in den Krankheiten nicht blosse Symptome sieht, sondern anomale Zustände der Organe, aus denen die Symptome sich ergeben, der wird mit uns darin übereinstimmen, dass die Würdigung der Leichenbefunde bei den Irren zu den wichtigsten Geschäften der Psychiatrie gehört. In der That, hier in der pathologischen Ana- tomie soll uns endlich Aufschluss darüber werden, welche Er- krankungen es denn eigentlich sind, deren Symptome wir bisher theils einzeln für sich, theils in ihrer Combination zu be- stimmten Krankheitsformen kennen gelernt haben; hier sollen endlich der wahren, d. h. der anatomischen Diagnose am Lebenden die richtigen Grundlagen gegeben werden. Für uns sind die Leichen- öffnungen kein Geschäft, von dem man bloss hinterher, wenn der Kranke gestorben ist, die Befriedigung einer oft abentheuerlichen Neugierde erwartet, für uns ist die pathologische Anatomie keine Sammlung von Curiositäten, auch kein blosses trockenes Register der von den Beobachtern vorgefundenen Anomalieen. Wir haben nicht nur den Werth der An- oder Abwesenheit solcher Alterationen im Ganzen und im Einzelnen zu erörtern, nicht nur ihren engen Zu- sammenhang mit der Pathogenie festzuhalten, durch den erst der todte Befund selbst sein Leben und seine Bedeutung für den leben- den Kranken bekommt, wir haben auch zu untersuchen, ob uns nicht
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VIERTES BUCH. Die pathologische Anatomie der psychischen Krankheiten.
§. 135.
Wer in den Krankheiten nicht blosse Symptome sieht, sondern anomale Zustände der Organe, aus denen die Symptome sich ergeben, der wird mit uns darin übereinstimmen, dass die Würdigung der Leichenbefunde bei den Irren zu den wichtigsten Geschäften der Psychiatrie gehört. In der That, hier in der pathologischen Ana- tomie soll uns endlich Aufschluss darüber werden, welche Er- krankungen es denn eigentlich sind, deren Symptome wir bisher theils einzeln für sich, theils in ihrer Combination zu be- stimmten Krankheitsformen kennen gelernt haben; hier sollen endlich der wahren, d. h. der anatomischen Diagnose am Lebenden die richtigen Grundlagen gegeben werden. Für uns sind die Leichen- öffnungen kein Geschäft, von dem man bloss hinterher, wenn der Kranke gestorben ist, die Befriedigung einer oft abentheuerlichen Neugierde erwartet, für uns ist die pathologische Anatomie keine Sammlung von Curiositäten, auch kein blosses trockenes Register der von den Beobachtern vorgefundenen Anomalieen. Wir haben nicht nur den Werth der An- oder Abwesenheit solcher Alterationen im Ganzen und im Einzelnen zu erörtern, nicht nur ihren engen Zu- sammenhang mit der Pathogenie festzuhalten, durch den erst der todte Befund selbst sein Leben und seine Bedeutung für den leben- den Kranken bekommt, wir haben auch zu untersuchen, ob uns nicht
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[[291]/0305]
VIERTES BUCH.
Die pathologische Anatomie der psychischen
Krankheiten.
§. 135.
Wer in den Krankheiten nicht blosse Symptome sieht, sondern
anomale Zustände der Organe, aus denen die Symptome sich ergeben,
der wird mit uns darin übereinstimmen, dass die Würdigung der
Leichenbefunde bei den Irren zu den wichtigsten Geschäften der
Psychiatrie gehört. In der That, hier in der pathologischen Ana-
tomie soll uns endlich Aufschluss darüber werden, welche Er-
krankungen es denn eigentlich sind, deren Symptome wir
bisher theils einzeln für sich, theils in ihrer Combination zu be-
stimmten Krankheitsformen kennen gelernt haben; hier sollen endlich
der wahren, d. h. der anatomischen Diagnose am Lebenden die
richtigen Grundlagen gegeben werden. Für uns sind die Leichen-
öffnungen kein Geschäft, von dem man bloss hinterher, wenn der
Kranke gestorben ist, die Befriedigung einer oft abentheuerlichen
Neugierde erwartet, für uns ist die pathologische Anatomie keine
Sammlung von Curiositäten, auch kein blosses trockenes Register der
von den Beobachtern vorgefundenen Anomalieen. Wir haben nicht
nur den Werth der An- oder Abwesenheit solcher Alterationen im
Ganzen und im Einzelnen zu erörtern, nicht nur ihren engen Zu-
sammenhang mit der Pathogenie festzuhalten, durch den erst der
todte Befund selbst sein Leben und seine Bedeutung für den leben-
den Kranken bekommt, wir haben auch zu untersuchen, ob uns nicht
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. [291]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/305>, abgerufen am 27.11.2024.
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