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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Analogie der Manie mit der Trunkenheit.
Trinker, bei welchen der Wein zuerst die Wirkung hat, dass sie
still, in sich gekehrt und verschlossen werden -- ein übrigens
schwaches Analogon des vorausgegangenen melancholischen Stadiums.

Die wesentliche Wirkung der alcoholischen Getränke aber ist
eine Gereiztheit, eine Spannung aller psychischen Processe mit be-
sonders erleichtertem und freierem Streben. Anfangs ist die Gedanken-
folge rascher, die Farben der Phantasie sind lebendiger, die Rede
gefällt sich in schlagenden und überraschenden Wendungen, die Ideen
finden sich wie von selbst zusammen, das Sprechen geht leichter
und die Muskelwirkung ist energischer -- diesem Verhalten entspricht
gewöhnlich die Stimmung der Heiterkeit, der psychischen Lust und
Kraft. -- Später lässt sich der Angetrunkene ganz gehen; in Rede
und Handlung wird der Inhalt der präcipitirt vorüberlaufenden Vor-
stellungen unmittelbar und unmodificirt nach Aussen geworfen; früher
verborgen gehaltene Gedanken entschlüpfen ihm unwillkührlich, oder
er gefällt sich darin, Ideen von Selbstüberschätzung preiszugeben;
er zeigt Furchtlosigkeit, Muth, ein erhöhtes Selbstvertrauen, das
nicht selten zur Unverschämtheit wird, er renommirt gerne, er
wird freigebig und verschwenderisch, indem er sich selbst reicher
erscheint, als er ist, und häufig treten auch hier einzelne Neigungen
und Triebe mit besonderer Stärke und Rücksichtslosigkeit auf, z. B.
der Geschlechtstrieb, die Neigung zu metrischer Gestaltung der Rede,
zum Sprechen in fremden Sprachen (namentlich französisch), zum
Singen, Schreien, zu Raufereien etc. Er ist sehr reizbar, und wie
der Wahnsinnige, nimmt er nichts übler auf, als für krank (betrunken)
gehalten zu werden. Die Stimmung kann wechseln mit oder ohne
äussere Motive; zuweilen drängen sich dem Betrunkenen unwillkühr-
lich traurige Gedanken auf und er fängt an heftig zu weinen, bald
ist er zärtlich und sentimental, bald drängt das Bedürfniss gesteigerter
Kraftäusserung zu unbesonnenen, gefährlichen Thaten, zum Umsich-
schlagen und einem mässigen Toben. In diesem Zustande macht
oft eine stärkere psychische Erregung noch so viel Eindruck auf ihn,
dass er momentan zu sich kommen, ja dass der Rausch plötzlich
durch eine solche abgeschnitten werden kann.

Später tritt eine immer grössere Verworrenheit ein, es kommen
Hallucinationen und Illusionen vor, der Betrunkene wiederholt mecha-
nisch das früher Gesagte, das Gedächtniss nimmt ab und er ist zu
neuen Gedankenbildungen nicht mehr fähig, kurz er verfällt in einen
blödsinnigen Zustand. Und nun -- man bemerke die auffallende
Aehnlichkeit mit dem Beginn der allgemeinen Paralyse -- wird auch

Analogie der Manie mit der Trunkenheit.
Trinker, bei welchen der Wein zuerst die Wirkung hat, dass sie
still, in sich gekehrt und verschlossen werden — ein übrigens
schwaches Analogon des vorausgegangenen melancholischen Stadiums.

Die wesentliche Wirkung der alcoholischen Getränke aber ist
eine Gereiztheit, eine Spannung aller psychischen Processe mit be-
sonders erleichtertem und freierem Streben. Anfangs ist die Gedanken-
folge rascher, die Farben der Phantasie sind lebendiger, die Rede
gefällt sich in schlagenden und überraschenden Wendungen, die Ideen
finden sich wie von selbst zusammen, das Sprechen geht leichter
und die Muskelwirkung ist energischer — diesem Verhalten entspricht
gewöhnlich die Stimmung der Heiterkeit, der psychischen Lust und
Kraft. — Später lässt sich der Angetrunkene ganz gehen; in Rede
und Handlung wird der Inhalt der präcipitirt vorüberlaufenden Vor-
stellungen unmittelbar und unmodificirt nach Aussen geworfen; früher
verborgen gehaltene Gedanken entschlüpfen ihm unwillkührlich, oder
er gefällt sich darin, Ideen von Selbstüberschätzung preiszugeben;
er zeigt Furchtlosigkeit, Muth, ein erhöhtes Selbstvertrauen, das
nicht selten zur Unverschämtheit wird, er renommirt gerne, er
wird freigebig und verschwenderisch, indem er sich selbst reicher
erscheint, als er ist, und häufig treten auch hier einzelne Neigungen
und Triebe mit besonderer Stärke und Rücksichtslosigkeit auf, z. B.
der Geschlechtstrieb, die Neigung zu metrischer Gestaltung der Rede,
zum Sprechen in fremden Sprachen (namentlich französisch), zum
Singen, Schreien, zu Raufereien etc. Er ist sehr reizbar, und wie
der Wahnsinnige, nimmt er nichts übler auf, als für krank (betrunken)
gehalten zu werden. Die Stimmung kann wechseln mit oder ohne
äussere Motive; zuweilen drängen sich dem Betrunkenen unwillkühr-
lich traurige Gedanken auf und er fängt an heftig zu weinen, bald
ist er zärtlich und sentimental, bald drängt das Bedürfniss gesteigerter
Kraftäusserung zu unbesonnenen, gefährlichen Thaten, zum Umsich-
schlagen und einem mässigen Toben. In diesem Zustande macht
oft eine stärkere psychische Erregung noch so viel Eindruck auf ihn,
dass er momentan zu sich kommen, ja dass der Rausch plötzlich
durch eine solche abgeschnitten werden kann.

Später tritt eine immer grössere Verworrenheit ein, es kommen
Hallucinationen und Illusionen vor, der Betrunkene wiederholt mecha-
nisch das früher Gesagte, das Gedächtniss nimmt ab und er ist zu
neuen Gedankenbildungen nicht mehr fähig, kurz er verfällt in einen
blödsinnigen Zustand. Und nun — man bemerke die auffallende
Aehnlichkeit mit dem Beginn der allgemeinen Paralyse — wird auch

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[246/0260] Analogie der Manie mit der Trunkenheit. Trinker, bei welchen der Wein zuerst die Wirkung hat, dass sie still, in sich gekehrt und verschlossen werden — ein übrigens schwaches Analogon des vorausgegangenen melancholischen Stadiums. Die wesentliche Wirkung der alcoholischen Getränke aber ist eine Gereiztheit, eine Spannung aller psychischen Processe mit be- sonders erleichtertem und freierem Streben. Anfangs ist die Gedanken- folge rascher, die Farben der Phantasie sind lebendiger, die Rede gefällt sich in schlagenden und überraschenden Wendungen, die Ideen finden sich wie von selbst zusammen, das Sprechen geht leichter und die Muskelwirkung ist energischer — diesem Verhalten entspricht gewöhnlich die Stimmung der Heiterkeit, der psychischen Lust und Kraft. — Später lässt sich der Angetrunkene ganz gehen; in Rede und Handlung wird der Inhalt der präcipitirt vorüberlaufenden Vor- stellungen unmittelbar und unmodificirt nach Aussen geworfen; früher verborgen gehaltene Gedanken entschlüpfen ihm unwillkührlich, oder er gefällt sich darin, Ideen von Selbstüberschätzung preiszugeben; er zeigt Furchtlosigkeit, Muth, ein erhöhtes Selbstvertrauen, das nicht selten zur Unverschämtheit wird, er renommirt gerne, er wird freigebig und verschwenderisch, indem er sich selbst reicher erscheint, als er ist, und häufig treten auch hier einzelne Neigungen und Triebe mit besonderer Stärke und Rücksichtslosigkeit auf, z. B. der Geschlechtstrieb, die Neigung zu metrischer Gestaltung der Rede, zum Sprechen in fremden Sprachen (namentlich französisch), zum Singen, Schreien, zu Raufereien etc. Er ist sehr reizbar, und wie der Wahnsinnige, nimmt er nichts übler auf, als für krank (betrunken) gehalten zu werden. Die Stimmung kann wechseln mit oder ohne äussere Motive; zuweilen drängen sich dem Betrunkenen unwillkühr- lich traurige Gedanken auf und er fängt an heftig zu weinen, bald ist er zärtlich und sentimental, bald drängt das Bedürfniss gesteigerter Kraftäusserung zu unbesonnenen, gefährlichen Thaten, zum Umsich- schlagen und einem mässigen Toben. In diesem Zustande macht oft eine stärkere psychische Erregung noch so viel Eindruck auf ihn, dass er momentan zu sich kommen, ja dass der Rausch plötzlich durch eine solche abgeschnitten werden kann. Später tritt eine immer grössere Verworrenheit ein, es kommen Hallucinationen und Illusionen vor, der Betrunkene wiederholt mecha- nisch das früher Gesagte, das Gedächtniss nimmt ab und er ist zu neuen Gedankenbildungen nicht mehr fähig, kurz er verfällt in einen blödsinnigen Zustand. Und nun — man bemerke die auffallende Aehnlichkeit mit dem Beginn der allgemeinen Paralyse — wird auch

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/260>, abgerufen am 24.11.2024.