vorgehen; namentlich kommen auch völlig freie lucida intervalla bis- weilen ganz plötzlich und unerwartet zum Vorschein.
Mit den Anfällen von Tobsucht wechseln oft Zustände von Me- lancholie; zuweilen findet sich ein regelmässiger (z. B. in bestimmten Jahreszeiten eintretender) Wechsel beider Formen. Anderemale sieht man Anfälle von Tobsucht nach regelmässigen oder unregelmässigen völlig freien Zwischenräumen, alle 1, 2, 3 Jahre etc. eintreten -- eine üble Form wahrer psychischer Epilepsie, die mit der gewöhn- lichen habituell gewordenen Epilepsie die schlimme Prognose theilt.
Die einzelnen Paroxismen der Tobsucht dauern bald nur einige Stunden, bald Monate lang; häufig zeigt sich nach den ersten Wochen eine auffallende Remission. Es scheint manchmal, als ob der Paroxis- mus der Tobsucht eine Art Ausgleichung und Lösung für den vorher vorhandenen Schwermuthszustand bilde, in derselben Weise wie man bei Epileptischen und Hysterischen mannigfache lästige, schmerzhafte Empfindungen, die dem Anfalle vorausgehen, mit diesem verschwinden sieht. (S. Archiv für physiolog. Heilkunde. III. 1. p. 89). Die schwächeren und durch Remissionen gemässigten Grade können viele Jahre lang fortdauern.
Es ist vielfach constatirt, dass während des Verlaufs der Tob- sucht die Symptome anderartiger schwerer Erkrankungen oft auffallend zurücktreten, namentlich der Kranke nur sehr wenig oder gar nicht über Schmerz klagt, bei Lungentuberculose wenig hustet, viel sprechen und schreien kann etc. Es ist diess nicht als ein wahres Sistirt- werden solcher organischer Erkrankungen zu betrachten; diese machen vielmehr ihren Verlauf mit Zerstörung der Organe weiter, wie diess die objectiven Symptome zeigen; allein eine ähnliche Empfindungs- anomalie, wie die Abnahme des Ermüdungs- und des Sättigungs- gefühls, verbunden mit der Absorbtion der Aufmerksamkeit in den Delirien, lässt den Kranken subjectiv nur wenig afficirt werden.
Tobsüchtige können plötzlich genesen oder dieser günstige Aus- gang erfolgt unter allmähliger, langsamer Abnahme der Symptome. Auch hier sieht man zuweilen, wie das Aufhören der Tobsucht mit dem Eintritt eines anderweitigen, neuen Erkrankens zusammenfällt, z. B. mit Anfällen von intermittirendem Fieber, mit Darmblutungen, mit Durchfällen, Hautkrankheiten, Entwicklung vieler Furunkel etc. Auch wir haben in einzelnen Fällen solche sogenannte critische Er- scheinungen beobachtet; meistens aber fehlen sie und wir können den Ausspruch Esquirols, der an dem Bestande der Heilung da zweifeln will, wo dieselbe nicht von merklichen Crisen begleitet sei, durchaus
Verlauf der Tobsucht.
vorgehen; namentlich kommen auch völlig freie lucida intervalla bis- weilen ganz plötzlich und unerwartet zum Vorschein.
Mit den Anfällen von Tobsucht wechseln oft Zustände von Me- lancholie; zuweilen findet sich ein regelmässiger (z. B. in bestimmten Jahreszeiten eintretender) Wechsel beider Formen. Anderemale sieht man Anfälle von Tobsucht nach regelmässigen oder unregelmässigen völlig freien Zwischenräumen, alle 1, 2, 3 Jahre etc. eintreten — eine üble Form wahrer psychischer Epilepsie, die mit der gewöhn- lichen habituell gewordenen Epilepsie die schlimme Prognose theilt.
Die einzelnen Paroxismen der Tobsucht dauern bald nur einige Stunden, bald Monate lang; häufig zeigt sich nach den ersten Wochen eine auffallende Remission. Es scheint manchmal, als ob der Paroxis- mus der Tobsucht eine Art Ausgleichung und Lösung für den vorher vorhandenen Schwermuthszustand bilde, in derselben Weise wie man bei Epileptischen und Hysterischen mannigfache lästige, schmerzhafte Empfindungen, die dem Anfalle vorausgehen, mit diesem verschwinden sieht. (S. Archiv für physiolog. Heilkunde. III. 1. p. 89). Die schwächeren und durch Remissionen gemässigten Grade können viele Jahre lang fortdauern.
Es ist vielfach constatirt, dass während des Verlaufs der Tob- sucht die Symptome anderartiger schwerer Erkrankungen oft auffallend zurücktreten, namentlich der Kranke nur sehr wenig oder gar nicht über Schmerz klagt, bei Lungentuberculose wenig hustet, viel sprechen und schreien kann etc. Es ist diess nicht als ein wahres Sistirt- werden solcher organischer Erkrankungen zu betrachten; diese machen vielmehr ihren Verlauf mit Zerstörung der Organe weiter, wie diess die objectiven Symptome zeigen; allein eine ähnliche Empfindungs- anomalie, wie die Abnahme des Ermüdungs- und des Sättigungs- gefühls, verbunden mit der Absorbtion der Aufmerksamkeit in den Delirien, lässt den Kranken subjectiv nur wenig afficirt werden.
Tobsüchtige können plötzlich genesen oder dieser günstige Aus- gang erfolgt unter allmähliger, langsamer Abnahme der Symptome. Auch hier sieht man zuweilen, wie das Aufhören der Tobsucht mit dem Eintritt eines anderweitigen, neuen Erkrankens zusammenfällt, z. B. mit Anfällen von intermittirendem Fieber, mit Darmblutungen, mit Durchfällen, Hautkrankheiten, Entwicklung vieler Furunkel etc. Auch wir haben in einzelnen Fällen solche sogenannte critische Er- scheinungen beobachtet; meistens aber fehlen sie und wir können den Ausspruch Esquirols, der an dem Bestande der Heilung da zweifeln will, wo dieselbe nicht von merklichen Crisen begleitet sei, durchaus
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Verlauf der Tobsucht.
vorgehen; namentlich kommen auch völlig freie lucida intervalla bis-
weilen ganz plötzlich und unerwartet zum Vorschein.
Mit den Anfällen von Tobsucht wechseln oft Zustände von Me-
lancholie; zuweilen findet sich ein regelmässiger (z. B. in bestimmten
Jahreszeiten eintretender) Wechsel beider Formen. Anderemale sieht
man Anfälle von Tobsucht nach regelmässigen oder unregelmässigen
völlig freien Zwischenräumen, alle 1, 2, 3 Jahre etc. eintreten —
eine üble Form wahrer psychischer Epilepsie, die mit der gewöhn-
lichen habituell gewordenen Epilepsie die schlimme Prognose theilt.
Die einzelnen Paroxismen der Tobsucht dauern bald nur einige
Stunden, bald Monate lang; häufig zeigt sich nach den ersten Wochen
eine auffallende Remission. Es scheint manchmal, als ob der Paroxis-
mus der Tobsucht eine Art Ausgleichung und Lösung für den vorher
vorhandenen Schwermuthszustand bilde, in derselben Weise wie man
bei Epileptischen und Hysterischen mannigfache lästige, schmerzhafte
Empfindungen, die dem Anfalle vorausgehen, mit diesem verschwinden
sieht. (S. Archiv für physiolog. Heilkunde. III. 1. p. 89). Die schwächeren
und durch Remissionen gemässigten Grade können viele Jahre lang
fortdauern.
Es ist vielfach constatirt, dass während des Verlaufs der Tob-
sucht die Symptome anderartiger schwerer Erkrankungen oft auffallend
zurücktreten, namentlich der Kranke nur sehr wenig oder gar nicht
über Schmerz klagt, bei Lungentuberculose wenig hustet, viel sprechen
und schreien kann etc. Es ist diess nicht als ein wahres Sistirt-
werden solcher organischer Erkrankungen zu betrachten; diese machen
vielmehr ihren Verlauf mit Zerstörung der Organe weiter, wie diess
die objectiven Symptome zeigen; allein eine ähnliche Empfindungs-
anomalie, wie die Abnahme des Ermüdungs- und des Sättigungs-
gefühls, verbunden mit der Absorbtion der Aufmerksamkeit in den
Delirien, lässt den Kranken subjectiv nur wenig afficirt werden.
Tobsüchtige können plötzlich genesen oder dieser günstige Aus-
gang erfolgt unter allmähliger, langsamer Abnahme der Symptome.
Auch hier sieht man zuweilen, wie das Aufhören der Tobsucht mit
dem Eintritt eines anderweitigen, neuen Erkrankens zusammenfällt,
z. B. mit Anfällen von intermittirendem Fieber, mit Darmblutungen,
mit Durchfällen, Hautkrankheiten, Entwicklung vieler Furunkel etc.
Auch wir haben in einzelnen Fällen solche sogenannte critische Er-
scheinungen beobachtet; meistens aber fehlen sie und wir können
den Ausspruch Esquirols, der an dem Bestande der Heilung da zweifeln
will, wo dieselbe nicht von merklichen Crisen begleitet sei, durchaus
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/240>, abgerufen am 28.11.2024.
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