immer nur aus dem Wahnsinne sich herausbildet, und darin besteht, dass die Anomalie der psychischen Selbstempfindung, der übermüthige Affect, welcher zu den irrigen Gedankenbildungen als zu seinen Erklärungsversuchen ursprünglich Anlass gab, zwar zurücktritt oder völlig erlischt, dass aber die falschen Gedankenbildungen selbst, die exaltirten Ideen über den Werth der eigenen Persönlichkeit, losgelöst von dem Boden, auf dem sie entstanden, fortdauern, und nun als für immer bleibende Verstandesirrthümer, das ganze psychische Leben der Kranken beherrschen. Wir werden indessen diese Zu- stände als die der exaltirten Verrücktheit am passendsten erst im dritten Abschnitte erörtern.
§. 108.
Es ist schon mehrmals darauf aufmerksam gemacht worden, wie in der Mehrzahl der Fälle melancholische Zustände den maniacalischen voraus und diese aus jenen hervorgehen. Man kann auch häufig dem Entwicklungsgange der Krankheit in der Weise folgen, dass man bei Schwermüthigen von Tag zu Tag eine Steigerung des schmerzlichen Affects und der Angst wahrnimmt, welche zuerst nur in grosse äussere Unruhe und nun immer zulegend in die vollendetste Tob- sucht übergeht. Hier hat offenbar der vorhandene Schmerzzustand den convulsivischen Zustand hervorgerufen, und man kann diess auf die passendste Weise theils mit den wirklichen Convulsionen, die einer sehr lebhaften körperlich unangenehmen Empfindung folgen, theils mit jenen Muskelcontractionen, welche instinctiv als Reactionen gegen heftige Schmerzen aufgeboten werden (Beissen, Fäusteballen etc.) vergleichen.
Man darf nicht glauben, dass deshalb das Wesen der Tobsucht nur in der ungezügelt freigewordenen Aeusserung des negativen Affects der Schwermuth bestünde. Denn obwohl sich dieser nicht selten in einzelnen convulsivischen Tobanfällen und einzelnen Werken der Zerstörung nach aussen Bahn bricht -- Zustände, die wir oben als Raptus melancholicus erwähnt haben -- wiewohl ferner häufig genug die Schwermuth während der ganzen maniacalischen Periode wie ein dunkler Hintergrund durch die ausgelassenste Selbstüberhebung durchblickt und namentlich zeitenweise wieder vorherrschend werden kann, so gewinnt doch mit der einmal frei gewordenen motorischen Exaltation die Tobsucht bei auch nur einiger Dauer eine von der früheren Schwermuth unabhängige Selbst- ständigkeit, und das Explodiren der Strebung geht dann in Einem
Verhältniss der Manie
immer nur aus dem Wahnsinne sich herausbildet, und darin besteht, dass die Anomalie der psychischen Selbstempfindung, der übermüthige Affect, welcher zu den irrigen Gedankenbildungen als zu seinen Erklärungsversuchen ursprünglich Anlass gab, zwar zurücktritt oder völlig erlischt, dass aber die falschen Gedankenbildungen selbst, die exaltirten Ideen über den Werth der eigenen Persönlichkeit, losgelöst von dem Boden, auf dem sie entstanden, fortdauern, und nun als für immer bleibende Verstandesirrthümer, das ganze psychische Leben der Kranken beherrschen. Wir werden indessen diese Zu- stände als die der exaltirten Verrücktheit am passendsten erst im dritten Abschnitte erörtern.
§. 108.
Es ist schon mehrmals darauf aufmerksam gemacht worden, wie in der Mehrzahl der Fälle melancholische Zustände den maniacalischen voraus und diese aus jenen hervorgehen. Man kann auch häufig dem Entwicklungsgange der Krankheit in der Weise folgen, dass man bei Schwermüthigen von Tag zu Tag eine Steigerung des schmerzlichen Affects und der Angst wahrnimmt, welche zuerst nur in grosse äussere Unruhe und nun immer zulegend in die vollendetste Tob- sucht übergeht. Hier hat offenbar der vorhandene Schmerzzustand den convulsivischen Zustand hervorgerufen, und man kann diess auf die passendste Weise theils mit den wirklichen Convulsionen, die einer sehr lebhaften körperlich unangenehmen Empfindung folgen, theils mit jenen Muskelcontractionen, welche instinctiv als Reactionen gegen heftige Schmerzen aufgeboten werden (Beissen, Fäusteballen etc.) vergleichen.
Man darf nicht glauben, dass deshalb das Wesen der Tobsucht nur in der ungezügelt freigewordenen Aeusserung des negativen Affects der Schwermuth bestünde. Denn obwohl sich dieser nicht selten in einzelnen convulsivischen Tobanfällen und einzelnen Werken der Zerstörung nach aussen Bahn bricht — Zustände, die wir oben als Raptus melancholicus erwähnt haben — wiewohl ferner häufig genug die Schwermuth während der ganzen maniacalischen Periode wie ein dunkler Hintergrund durch die ausgelassenste Selbstüberhebung durchblickt und namentlich zeitenweise wieder vorherrschend werden kann, so gewinnt doch mit der einmal frei gewordenen motorischen Exaltation die Tobsucht bei auch nur einiger Dauer eine von der früheren Schwermuth unabhängige Selbst- ständigkeit, und das Explodiren der Strebung geht dann in Einem
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbn="212"facs="#f0226"/><fwtype="header"place="top">Verhältniss der Manie</fw><lb/>
immer nur aus dem Wahnsinne sich herausbildet, und darin<lb/>
besteht, dass die Anomalie der psychischen Selbstempfindung, der<lb/>
übermüthige Affect, welcher zu den irrigen Gedankenbildungen als<lb/>
zu seinen Erklärungsversuchen ursprünglich Anlass gab, zwar zurücktritt<lb/>
oder völlig erlischt, dass aber die falschen Gedankenbildungen selbst,<lb/>
die exaltirten Ideen über den Werth der eigenen Persönlichkeit,<lb/>
losgelöst von dem Boden, auf dem sie entstanden, fortdauern, und<lb/>
nun als für immer bleibende Verstandesirrthümer, das ganze psychische<lb/>
Leben der Kranken beherrschen. Wir werden indessen diese Zu-<lb/>
stände als die der <hirendition="#g">exaltirten Verrücktheit</hi> am passendsten erst<lb/>
im dritten Abschnitte erörtern.</p></div><lb/><divn="3"><head>§. 108.</head><lb/><p>Es ist schon mehrmals darauf aufmerksam gemacht worden, wie<lb/>
in der Mehrzahl der Fälle melancholische Zustände den maniacalischen<lb/>
voraus und diese aus jenen hervorgehen. Man kann auch häufig dem<lb/>
Entwicklungsgange der Krankheit in der Weise folgen, dass man bei<lb/>
Schwermüthigen von Tag zu Tag eine Steigerung des schmerzlichen<lb/>
Affects und der Angst wahrnimmt, welche zuerst nur in grosse<lb/>
äussere Unruhe und nun immer zulegend in die vollendetste Tob-<lb/>
sucht übergeht. Hier hat offenbar der vorhandene Schmerzzustand<lb/>
den convulsivischen Zustand hervorgerufen, und man kann diess auf<lb/>
die passendste Weise theils mit den wirklichen Convulsionen, die<lb/>
einer sehr lebhaften körperlich unangenehmen Empfindung folgen,<lb/>
theils mit jenen Muskelcontractionen, welche instinctiv als Reactionen<lb/>
gegen heftige Schmerzen aufgeboten werden (Beissen, Fäusteballen etc.)<lb/>
vergleichen.</p><lb/><p>Man darf nicht glauben, dass deshalb das Wesen der Tobsucht<lb/>
nur in der ungezügelt freigewordenen Aeusserung des negativen<lb/>
Affects der Schwermuth bestünde. Denn obwohl sich dieser nicht<lb/>
selten in einzelnen convulsivischen Tobanfällen und einzelnen Werken<lb/>
der Zerstörung nach aussen Bahn bricht — Zustände, die wir<lb/>
oben als Raptus melancholicus erwähnt haben — wiewohl ferner<lb/>
häufig genug die Schwermuth während der ganzen maniacalischen<lb/>
Periode wie ein dunkler Hintergrund durch die ausgelassenste<lb/>
Selbstüberhebung durchblickt und namentlich zeitenweise wieder<lb/>
vorherrschend werden kann, so gewinnt doch mit der einmal frei<lb/>
gewordenen motorischen Exaltation die Tobsucht bei auch nur<lb/>
einiger Dauer eine von der früheren Schwermuth unabhängige Selbst-<lb/>
ständigkeit, und das Explodiren der Strebung geht dann in Einem<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[212/0226]
Verhältniss der Manie
immer nur aus dem Wahnsinne sich herausbildet, und darin
besteht, dass die Anomalie der psychischen Selbstempfindung, der
übermüthige Affect, welcher zu den irrigen Gedankenbildungen als
zu seinen Erklärungsversuchen ursprünglich Anlass gab, zwar zurücktritt
oder völlig erlischt, dass aber die falschen Gedankenbildungen selbst,
die exaltirten Ideen über den Werth der eigenen Persönlichkeit,
losgelöst von dem Boden, auf dem sie entstanden, fortdauern, und
nun als für immer bleibende Verstandesirrthümer, das ganze psychische
Leben der Kranken beherrschen. Wir werden indessen diese Zu-
stände als die der exaltirten Verrücktheit am passendsten erst
im dritten Abschnitte erörtern.
§. 108.
Es ist schon mehrmals darauf aufmerksam gemacht worden, wie
in der Mehrzahl der Fälle melancholische Zustände den maniacalischen
voraus und diese aus jenen hervorgehen. Man kann auch häufig dem
Entwicklungsgange der Krankheit in der Weise folgen, dass man bei
Schwermüthigen von Tag zu Tag eine Steigerung des schmerzlichen
Affects und der Angst wahrnimmt, welche zuerst nur in grosse
äussere Unruhe und nun immer zulegend in die vollendetste Tob-
sucht übergeht. Hier hat offenbar der vorhandene Schmerzzustand
den convulsivischen Zustand hervorgerufen, und man kann diess auf
die passendste Weise theils mit den wirklichen Convulsionen, die
einer sehr lebhaften körperlich unangenehmen Empfindung folgen,
theils mit jenen Muskelcontractionen, welche instinctiv als Reactionen
gegen heftige Schmerzen aufgeboten werden (Beissen, Fäusteballen etc.)
vergleichen.
Man darf nicht glauben, dass deshalb das Wesen der Tobsucht
nur in der ungezügelt freigewordenen Aeusserung des negativen
Affects der Schwermuth bestünde. Denn obwohl sich dieser nicht
selten in einzelnen convulsivischen Tobanfällen und einzelnen Werken
der Zerstörung nach aussen Bahn bricht — Zustände, die wir
oben als Raptus melancholicus erwähnt haben — wiewohl ferner
häufig genug die Schwermuth während der ganzen maniacalischen
Periode wie ein dunkler Hintergrund durch die ausgelassenste
Selbstüberhebung durchblickt und namentlich zeitenweise wieder
vorherrschend werden kann, so gewinnt doch mit der einmal frei
gewordenen motorischen Exaltation die Tobsucht bei auch nur
einiger Dauer eine von der früheren Schwermuth unabhängige Selbst-
ständigkeit, und das Explodiren der Strebung geht dann in Einem
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/226>, abgerufen am 03.03.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.