so fand er einen Genuss darin, eine Frau, die er sehr liebte, zu quälen und dann weinen zu sehen."
(Lallemand, des pertes seminales. I. p. 251.)
§. 105.
Aehnlich einem der mitgetheilten Fälle von Selbstmordtrieb (Nro. XIII), kommen auch bei bisher wirklich oder scheinbar Gesunden plötzliche, mit Umneblung des Bewusstseins verbundene Anfälle heftigster Angst mit schrecklichen Hallucinationen vor, in denen der Kranke in jähe blinde Wuth gerathen und Alles, was ihm in den Weg kommt, niederhauen und zerstören kann. Diese Fälle, ihrer Aeusserung nach freilich zur Form der Tobsucht gehörig, in ihrer psychologischen Begründung aber heftige Ausbrüche melan- cholischer Angst, überhaupt krankhaft entstandener negativer Affecte darstellend, finden in ihrem Mangel an reeller psychischer Motivirung nächste Analogieen an den plötzlichen Anfällen der tiefsten Angst, und des heftigsten Seelenschmerzes, die man zuweilen als Vorläufer epileptischer Anfälle beobachtet hat *).
Fast ebenso dunkel in Bezug auf ihre innerliche Begründung, und doch von höchster Wichtigkeit für die Rechtspflege sind jene Fälle, wo bisher psychisch Gesunde bei vollem Bewusstsein, oft ganz schnell und ohne äussere Anlässe, von ängstlichen, schmerzlichen Affecten und einem, ihnen selbst unerklärlichen Gelüste nach Mord befallen werden. Hier sind indessen zwei Categorieen von Fällen zu unterscheiden.
Einmal diejenigen, wo solcher Trieb zum Blutvergiessen in bis- her heitern, frohen und liebenden Gemüthern plötzlich, ohne allen Anlass aufsteigt und sich zähe anhaltend immer und immer in alle Gedankenkreise eindrängt. Hier entsteht nun meist ein tiefer, trau- riger Zwiespalt des Bewusstseins, ein Kampf und Sturm der peinlichsten Affecte um die neuen, schrecklichen Vorstellungen, gegen welche der ganze bisherige Gehalt des Ich mit all der, bei verschiedenen Menschen freilich sehr verschiedenen Kraft, die ihm zu Gebote steht, sich zur Wehre setzt. Der Niederlage des Ich in diesem Kampfe kann sich dann der Mensch oft nur durch Flucht in die Einsamkeit, wo der Trieb kein Object mehr findet, entziehen; nach einiger Zeit können dann jene Vorstellungen ebenso schnell, als sie aufstiegen, wieder versinken, und der Mensch ist wieder ganz der Alte; er weiss kaum wie ihm geschehen ist, was für ein schwerer, grässlicher Traum ihn
*) S. das Capitel von der Epilepsie.
und Zerstörungstrieben.
so fand er einen Genuss darin, eine Frau, die er sehr liebte, zu quälen und dann weinen zu sehen.“
(Lallemand, des pertes seminales. I. p. 251.)
§. 105.
Aehnlich einem der mitgetheilten Fälle von Selbstmordtrieb (Nro. XIII), kommen auch bei bisher wirklich oder scheinbar Gesunden plötzliche, mit Umneblung des Bewusstseins verbundene Anfälle heftigster Angst mit schrecklichen Hallucinationen vor, in denen der Kranke in jähe blinde Wuth gerathen und Alles, was ihm in den Weg kommt, niederhauen und zerstören kann. Diese Fälle, ihrer Aeusserung nach freilich zur Form der Tobsucht gehörig, in ihrer psychologischen Begründung aber heftige Ausbrüche melan- cholischer Angst, überhaupt krankhaft entstandener negativer Affecte darstellend, finden in ihrem Mangel an reeller psychischer Motivirung nächste Analogieen an den plötzlichen Anfällen der tiefsten Angst, und des heftigsten Seelenschmerzes, die man zuweilen als Vorläufer epileptischer Anfälle beobachtet hat *).
Fast ebenso dunkel in Bezug auf ihre innerliche Begründung, und doch von höchster Wichtigkeit für die Rechtspflege sind jene Fälle, wo bisher psychisch Gesunde bei vollem Bewusstsein, oft ganz schnell und ohne äussere Anlässe, von ängstlichen, schmerzlichen Affecten und einem, ihnen selbst unerklärlichen Gelüste nach Mord befallen werden. Hier sind indessen zwei Categorieen von Fällen zu unterscheiden.
Einmal diejenigen, wo solcher Trieb zum Blutvergiessen in bis- her heitern, frohen und liebenden Gemüthern plötzlich, ohne allen Anlass aufsteigt und sich zähe anhaltend immer und immer in alle Gedankenkreise eindrängt. Hier entsteht nun meist ein tiefer, trau- riger Zwiespalt des Bewusstseins, ein Kampf und Sturm der peinlichsten Affecte um die neuen, schrecklichen Vorstellungen, gegen welche der ganze bisherige Gehalt des Ich mit all der, bei verschiedenen Menschen freilich sehr verschiedenen Kraft, die ihm zu Gebote steht, sich zur Wehre setzt. Der Niederlage des Ich in diesem Kampfe kann sich dann der Mensch oft nur durch Flucht in die Einsamkeit, wo der Trieb kein Object mehr findet, entziehen; nach einiger Zeit können dann jene Vorstellungen ebenso schnell, als sie aufstiegen, wieder versinken, und der Mensch ist wieder ganz der Alte; er weiss kaum wie ihm geschehen ist, was für ein schwerer, grässlicher Traum ihn
*) S. das Capitel von der Epilepsie.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbn="201"facs="#f0215"/><fwtype="header"place="top">und Zerstörungstrieben.</fw><lb/><hirendition="#g">so fand er einen Genuss darin, eine Frau, die er sehr liebte,<lb/>
zu quälen und dann weinen zu sehen</hi>.“</p><lb/><p><hirendition="#et">(Lallemand, des pertes seminales. I. p. 251.)</hi></p></div><lb/><divn="5"><head>§. 105.</head><lb/><p>Aehnlich einem der mitgetheilten Fälle von Selbstmordtrieb<lb/>
(Nro. XIII), kommen auch bei <hirendition="#g">bisher wirklich oder scheinbar<lb/>
Gesunden</hi> plötzliche, mit Umneblung des Bewusstseins verbundene<lb/>
Anfälle heftigster Angst mit schrecklichen Hallucinationen vor, in<lb/>
denen der Kranke in jähe blinde Wuth gerathen und Alles, was ihm<lb/>
in den Weg kommt, niederhauen und zerstören kann. Diese Fälle,<lb/>
ihrer Aeusserung nach freilich zur Form der Tobsucht gehörig, in<lb/>
ihrer psychologischen Begründung aber heftige Ausbrüche melan-<lb/>
cholischer Angst, überhaupt krankhaft entstandener negativer Affecte<lb/>
darstellend, finden in ihrem Mangel an reeller psychischer Motivirung<lb/>
nächste Analogieen an den plötzlichen Anfällen der tiefsten Angst,<lb/>
und des heftigsten Seelenschmerzes, die man zuweilen als Vorläufer<lb/><hirendition="#g">epileptischer Anfälle</hi> beobachtet hat <noteplace="foot"n="*)">S. das Capitel von der Epilepsie.</note>.</p><lb/><p>Fast ebenso dunkel in Bezug auf ihre innerliche Begründung,<lb/>
und doch von höchster Wichtigkeit für die Rechtspflege sind jene<lb/>
Fälle, wo bisher psychisch Gesunde bei vollem Bewusstsein, oft ganz<lb/>
schnell und ohne äussere Anlässe, von ängstlichen, schmerzlichen<lb/>
Affecten und einem, ihnen selbst unerklärlichen Gelüste nach Mord<lb/>
befallen werden. Hier sind indessen zwei Categorieen von Fällen zu<lb/>
unterscheiden.</p><lb/><p>Einmal diejenigen, wo solcher Trieb zum Blutvergiessen in bis-<lb/>
her heitern, frohen und liebenden Gemüthern plötzlich, ohne allen<lb/>
Anlass aufsteigt und sich zähe anhaltend immer und immer in alle<lb/>
Gedankenkreise eindrängt. Hier entsteht nun meist ein tiefer, trau-<lb/>
riger Zwiespalt des Bewusstseins, ein Kampf und Sturm der peinlichsten<lb/>
Affecte um die neuen, schrecklichen Vorstellungen, gegen welche der<lb/>
ganze bisherige Gehalt des Ich mit all der, bei verschiedenen Menschen<lb/>
freilich sehr verschiedenen Kraft, die ihm zu Gebote steht, sich zur<lb/>
Wehre setzt. Der Niederlage des Ich in diesem Kampfe kann sich<lb/>
dann der Mensch oft nur durch Flucht in die Einsamkeit, wo der<lb/>
Trieb kein Object mehr findet, entziehen; nach einiger Zeit können<lb/>
dann jene Vorstellungen ebenso schnell, als sie aufstiegen, wieder<lb/>
versinken, und der Mensch ist wieder ganz der Alte; er weiss kaum<lb/>
wie ihm geschehen ist, was für ein schwerer, grässlicher Traum ihn<lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[201/0215]
und Zerstörungstrieben.
so fand er einen Genuss darin, eine Frau, die er sehr liebte,
zu quälen und dann weinen zu sehen.“
(Lallemand, des pertes seminales. I. p. 251.)
§. 105.
Aehnlich einem der mitgetheilten Fälle von Selbstmordtrieb
(Nro. XIII), kommen auch bei bisher wirklich oder scheinbar
Gesunden plötzliche, mit Umneblung des Bewusstseins verbundene
Anfälle heftigster Angst mit schrecklichen Hallucinationen vor, in
denen der Kranke in jähe blinde Wuth gerathen und Alles, was ihm
in den Weg kommt, niederhauen und zerstören kann. Diese Fälle,
ihrer Aeusserung nach freilich zur Form der Tobsucht gehörig, in
ihrer psychologischen Begründung aber heftige Ausbrüche melan-
cholischer Angst, überhaupt krankhaft entstandener negativer Affecte
darstellend, finden in ihrem Mangel an reeller psychischer Motivirung
nächste Analogieen an den plötzlichen Anfällen der tiefsten Angst,
und des heftigsten Seelenschmerzes, die man zuweilen als Vorläufer
epileptischer Anfälle beobachtet hat *).
Fast ebenso dunkel in Bezug auf ihre innerliche Begründung,
und doch von höchster Wichtigkeit für die Rechtspflege sind jene
Fälle, wo bisher psychisch Gesunde bei vollem Bewusstsein, oft ganz
schnell und ohne äussere Anlässe, von ängstlichen, schmerzlichen
Affecten und einem, ihnen selbst unerklärlichen Gelüste nach Mord
befallen werden. Hier sind indessen zwei Categorieen von Fällen zu
unterscheiden.
Einmal diejenigen, wo solcher Trieb zum Blutvergiessen in bis-
her heitern, frohen und liebenden Gemüthern plötzlich, ohne allen
Anlass aufsteigt und sich zähe anhaltend immer und immer in alle
Gedankenkreise eindrängt. Hier entsteht nun meist ein tiefer, trau-
riger Zwiespalt des Bewusstseins, ein Kampf und Sturm der peinlichsten
Affecte um die neuen, schrecklichen Vorstellungen, gegen welche der
ganze bisherige Gehalt des Ich mit all der, bei verschiedenen Menschen
freilich sehr verschiedenen Kraft, die ihm zu Gebote steht, sich zur
Wehre setzt. Der Niederlage des Ich in diesem Kampfe kann sich
dann der Mensch oft nur durch Flucht in die Einsamkeit, wo der
Trieb kein Object mehr findet, entziehen; nach einiger Zeit können
dann jene Vorstellungen ebenso schnell, als sie aufstiegen, wieder
versinken, und der Mensch ist wieder ganz der Alte; er weiss kaum
wie ihm geschehen ist, was für ein schwerer, grässlicher Traum ihn
*) S. das Capitel von der Epilepsie.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/215>, abgerufen am 03.03.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.