B. Melancholische Zustände mit Trieben zur Zerstörung und Verletzung Anderer.
§. 104.
Direct und unmittelbar an die schwermüthigen Antriebe zur Selbst- vernichtung schliessen sich die krankhaft entstandenen Triebe zur Zerstörung und Verletzung anderer Menschen oder lebloser Objecte an. Nicht nur kommen beide häufig zusammen vor, nicht nur haben die hierhergehörigen Gewaltthaten gegen Andere, insoferne sie häufig gerade an dem dem Kranken Liebsten und Theuersten begangen werden, alsdann ihrer inneren Begründung nach die wesentliche Be- deutung einer Selbstverletzung und Selbstverstümmlung; beide beruhen auch überhaupt auf demselben Grundzustande der krank- haften negativen Affecte, und bei beiden wiederholen sich die ein- zelnen Verschiedenheiten der näheren, krankhaften Motivirung.
Was zuerst die psychische Begründung solcher Gewaltthaten bei früher schon entschieden Schwermüthigen betrifft, so gehen solche Antriebe zum Theil aus einem wirklichen Delirium des Vor- stellens oder der Sinnesperception hervor. Hierher gehören die Fälle, wo die Kranken sich von Anderen verfolgt oder überhaupt beein- trächtigt glauben *), wo sie vorhandene Gehörs-Hallucinationen von angreifendem, beschimpfendem Inhalt gewissen Personen zuschreiben, und an solchen dann wirkliche Rachehandlungen begehen. Diesen stehen jene Gewaltthaten sehr nahe, die auf der entschieden melan- cholischen Vorstellung beruhen, dass Alles in der Welt durchaus schlecht, verworfen und verloren sei, dass z. B. die unschuldigen Kinder dem Elend dieser Welt am Besten durch einen frühen (ge- waltsamen) Tod entzogen würden, oder dass -- ungeachtet kein Grund zu solcher Besorgniss vorliegt -- alle Mittel zur weiteren Existenz er- schöpft seien, und Alles demnächst in Hunger und Elend zu Grunde gehen müsse etc. Derlei dunklere oder bewusstere Vorstellungen projiciren sich nicht selten in Hallucinationen, die direct zum Mord (von Kindern, Gatten etc.) auffordern, und es schliessen sich an sie jene Gehörs- hallucinationen fanatisch-religiösen Inhalts (Stimmen Gottes, vom Himmel etc.) an, welche dem Kranken eine Nachahmung des Opfers
*) So z. B. die mehrfach vorgekommenen Fälle, wo Hypochondrisch-Ver- rückte Mordangriffe auf ihre Aerzte machten. Vrgl. Marc, übers. v. Ideler. II. p. 9. -- Ueberhaupt wollen wir auf die reichliche Sammlung von Fällen, die diese Schrift enthält, für dieses ganze Capitel verweisen.
Dritte Form der Schwermuth.
B. Melancholische Zustände mit Trieben zur Zerstörung und Verletzung Anderer.
§. 104.
Direct und unmittelbar an die schwermüthigen Antriebe zur Selbst- vernichtung schliessen sich die krankhaft entstandenen Triebe zur Zerstörung und Verletzung anderer Menschen oder lebloser Objecte an. Nicht nur kommen beide häufig zusammen vor, nicht nur haben die hierhergehörigen Gewaltthaten gegen Andere, insoferne sie häufig gerade an dem dem Kranken Liebsten und Theuersten begangen werden, alsdann ihrer inneren Begründung nach die wesentliche Be- deutung einer Selbstverletzung und Selbstverstümmlung; beide beruhen auch überhaupt auf demselben Grundzustande der krank- haften negativen Affecte, und bei beiden wiederholen sich die ein- zelnen Verschiedenheiten der näheren, krankhaften Motivirung.
Was zuerst die psychische Begründung solcher Gewaltthaten bei früher schon entschieden Schwermüthigen betrifft, so gehen solche Antriebe zum Theil aus einem wirklichen Delirium des Vor- stellens oder der Sinnesperception hervor. Hierher gehören die Fälle, wo die Kranken sich von Anderen verfolgt oder überhaupt beein- trächtigt glauben *), wo sie vorhandene Gehörs-Hallucinationen von angreifendem, beschimpfendem Inhalt gewissen Personen zuschreiben, und an solchen dann wirkliche Rachehandlungen begehen. Diesen stehen jene Gewaltthaten sehr nahe, die auf der entschieden melan- cholischen Vorstellung beruhen, dass Alles in der Welt durchaus schlecht, verworfen und verloren sei, dass z. B. die unschuldigen Kinder dem Elend dieser Welt am Besten durch einen frühen (ge- waltsamen) Tod entzogen würden, oder dass — ungeachtet kein Grund zu solcher Besorgniss vorliegt — alle Mittel zur weiteren Existenz er- schöpft seien, und Alles demnächst in Hunger und Elend zu Grunde gehen müsse etc. Derlei dunklere oder bewusstere Vorstellungen projiciren sich nicht selten in Hallucinationen, die direct zum Mord (von Kindern, Gatten etc.) auffordern, und es schliessen sich an sie jene Gehörs- hallucinationen fanatisch-religiösen Inhalts (Stimmen Gottes, vom Himmel etc.) an, welche dem Kranken eine Nachahmung des Opfers
*) So z. B. die mehrfach vorgekommenen Fälle, wo Hypochondrisch-Ver- rückte Mordangriffe auf ihre Aerzte machten. Vrgl. Marc, übers. v. Ideler. II. p. 9. — Ueberhaupt wollen wir auf die reichliche Sammlung von Fällen, die diese Schrift enthält, für dieses ganze Capitel verweisen.
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Dritte Form der Schwermuth.
B. Melancholische Zustände mit Trieben zur Zerstörung und
Verletzung Anderer.
§. 104.
Direct und unmittelbar an die schwermüthigen Antriebe zur Selbst-
vernichtung schliessen sich die krankhaft entstandenen Triebe zur
Zerstörung und Verletzung anderer Menschen oder lebloser Objecte
an. Nicht nur kommen beide häufig zusammen vor, nicht nur haben
die hierhergehörigen Gewaltthaten gegen Andere, insoferne sie häufig
gerade an dem dem Kranken Liebsten und Theuersten begangen
werden, alsdann ihrer inneren Begründung nach die wesentliche Be-
deutung einer Selbstverletzung und Selbstverstümmlung; beide
beruhen auch überhaupt auf demselben Grundzustande der krank-
haften negativen Affecte, und bei beiden wiederholen sich die ein-
zelnen Verschiedenheiten der näheren, krankhaften Motivirung.
Was zuerst die psychische Begründung solcher Gewaltthaten bei
früher schon entschieden Schwermüthigen betrifft, so gehen
solche Antriebe zum Theil aus einem wirklichen Delirium des Vor-
stellens oder der Sinnesperception hervor. Hierher gehören die Fälle,
wo die Kranken sich von Anderen verfolgt oder überhaupt beein-
trächtigt glauben *), wo sie vorhandene Gehörs-Hallucinationen von
angreifendem, beschimpfendem Inhalt gewissen Personen zuschreiben,
und an solchen dann wirkliche Rachehandlungen begehen. Diesen
stehen jene Gewaltthaten sehr nahe, die auf der entschieden melan-
cholischen Vorstellung beruhen, dass Alles in der Welt durchaus
schlecht, verworfen und verloren sei, dass z. B. die unschuldigen
Kinder dem Elend dieser Welt am Besten durch einen frühen (ge-
waltsamen) Tod entzogen würden, oder dass — ungeachtet kein Grund
zu solcher Besorgniss vorliegt — alle Mittel zur weiteren Existenz er-
schöpft seien, und Alles demnächst in Hunger und Elend zu Grunde gehen
müsse etc. Derlei dunklere oder bewusstere Vorstellungen projiciren
sich nicht selten in Hallucinationen, die direct zum Mord (von Kindern,
Gatten etc.) auffordern, und es schliessen sich an sie jene Gehörs-
hallucinationen fanatisch-religiösen Inhalts (Stimmen Gottes, vom
Himmel etc.) an, welche dem Kranken eine Nachahmung des Opfers
*) So z. B. die mehrfach vorgekommenen Fälle, wo Hypochondrisch-Ver-
rückte Mordangriffe auf ihre Aerzte machten. Vrgl. Marc, übers. v. Ideler. II.
p. 9. — Ueberhaupt wollen wir auf die reichliche Sammlung von Fällen, die
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/213>, abgerufen am 03.03.2025.
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