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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Selbstmordtrieb.

Nach dem Erwachen hatte sie sogleich heiter nach allem gefragt und mit
Erstaunen von ihrem Versuch sich zu ertränken und von der Gefahr, in die sie
dadurch gekommen war, gehört. Bei meinem Eintritte Morgens fragte sie mich
lachend, was ich wohl von ihr gedacht und gesagt habe und begehrte zu wissen,
wie sie zu dem thörichten Einfalle sich ertränken zu wollen habe kommen
können, ohne selbst weiter etwas davon zu wissen, oder irgend einen Grund
dafür angeben zu können. -- Sie ist seither ungeachtet mehrerer Wochenbetten,
manchen Unruhen und Schrecken niemals wieder von einem ähnlichen Gedanken
befallen worden, und abgerechnet ihre hysterischen Beschwerden und den be-
schwerlichen Monatsfluss, immer gesund, heiter und lebenslustig geblieben.

(Mende in Henke Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. 1821.)

XIV. Trieb zum Selbstmord aus verborgen gehaltenen Halluci-
nationen
. Ein junger Mann, der ein sehr grosses Vermögen besass, hatte sich
der Onanie ergeben, befand sich jedoch vollkommen wohl. Er hatte keine andere
Ursache zum Kummer, als die Rückerinnerung an die Revolution, deren Prin-
cipien er missbilligte, und hatte schon mehrmals versucht sich das Leben zu
nehmen und zwar mit Pistolen, da er sich durch nichts Anderes tödten wollte.
Er befand sich zwei Jahre lang unter meiner Aufsicht, hatte während dieser Zeit
nicht einen Augenblick irre gesprochen, sondern war heiter, liebenswürdig, sehr
unterrichtet und sagte mir manchmal: "Geben Sie mir eine Pistole!"
Warum wollen Sie sich denn tödten? "Weil ich mich langweile." Erst nach
zwei Jahren gestand er mir, dass er seit langer Zeit Hallucinationen des Gehörs
und Gesichts habe. Er glaubte von Polizeiagenten verfolgt zu sein, die er immer
hörte und sah, selbst mitten durch die Mauern seines Zimmers, die, wie er hinzu-
fügte, aus zwei doppelten verschiebbaren Brettwänden bestanden, damit man Alles
sehen und hören könne, was er thue und was er sage.

(Esquirol, übersetzt von Bernhard. I. p. 322.)

XV. Vager Trieb zum Selbstmord, entstanden durch
heftige Furcht bei körperlicher Erschöpfung
. N., ein Schnei-
der, 31 Jahre alt, verfiel durch Onanie in tiefe Entkräftung und musste sich
später wiederholten Mercurialcuren unterwerfen. Beim Ausbruch der Cholera im
Jahre 1831 wurde er durch das Gerücht, dass man die Kranken mit Zangen aus
ihren Wohnungen ziehe und sie auch ausserdem äusserst grausam behandle,
dergestalt mit Entsetzen erfüllt, dass er in Ohnmacht fiel und mit der Cholera
behaftet zu sein glaubte. Er konnte Anfangs vor Angst nicht arbeiten, des
Nachts nicht schlafen und gerieth bei der Vorstellung, dass auch er einer so
schrecklichen Behandlung sich werde unterwerfen müssen, ganz ausser sich; ja
er brachte die Nächte bei Bekannten zu, weil er fürchtete in ein Choleralazareth
abgeholt zu werden. Bei der Arbeit wurde er aus Angst von Gliederzittern be-
fallen, welches er für einen Vorläufer der Cholera um so mehr hielt, da er
hörte, dass die Furcht dazu disponire. Der Appetit verging ihm und er scheute
sich viel zu essen, weil die Menge der Speisen und die meisten Arten derselben
ihm schädlich seien, ja er schwächte durch vieles Hungern seine Verdauung
sehr. Unaufhörlich von Furcht gequält schlief er wenig, träumte viel von Er-
mordungen, Leichenzügen; bei Tage wagte er nicht auszugehen aus Furcht vor
der Krankheit und vor der Polizei. Diese Pein versetzte ihn in eine so reizbare
Gemüthstimmung, dass er durch den Anblick des Schlachtviehes sehr gerührt
wurde, weil er sich vorstellte wie demselben das Messer an die Kehle gesetzt

Selbstmordtrieb.

Nach dem Erwachen hatte sie sogleich heiter nach allem gefragt und mit
Erstaunen von ihrem Versuch sich zu ertränken und von der Gefahr, in die sie
dadurch gekommen war, gehört. Bei meinem Eintritte Morgens fragte sie mich
lachend, was ich wohl von ihr gedacht und gesagt habe und begehrte zu wissen,
wie sie zu dem thörichten Einfalle sich ertränken zu wollen habe kommen
können, ohne selbst weiter etwas davon zu wissen, oder irgend einen Grund
dafür angeben zu können. — Sie ist seither ungeachtet mehrerer Wochenbetten,
manchen Unruhen und Schrecken niemals wieder von einem ähnlichen Gedanken
befallen worden, und abgerechnet ihre hysterischen Beschwerden und den be-
schwerlichen Monatsfluss, immer gesund, heiter und lebenslustig geblieben.

(Mende in Henke Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. 1821.)

XIV. Trieb zum Selbstmord aus verborgen gehaltenen Halluci-
nationen
. Ein junger Mann, der ein sehr grosses Vermögen besass, hatte sich
der Onanie ergeben, befand sich jedoch vollkommen wohl. Er hatte keine andere
Ursache zum Kummer, als die Rückerinnerung an die Revolution, deren Prin-
cipien er missbilligte, und hatte schon mehrmals versucht sich das Leben zu
nehmen und zwar mit Pistolen, da er sich durch nichts Anderes tödten wollte.
Er befand sich zwei Jahre lang unter meiner Aufsicht, hatte während dieser Zeit
nicht einen Augenblick irre gesprochen, sondern war heiter, liebenswürdig, sehr
unterrichtet und sagte mir manchmal: „Geben Sie mir eine Pistole!“
Warum wollen Sie sich denn tödten? „Weil ich mich langweile.“ Erst nach
zwei Jahren gestand er mir, dass er seit langer Zeit Hallucinationen des Gehörs
und Gesichts habe. Er glaubte von Polizeiagenten verfolgt zu sein, die er immer
hörte und sah, selbst mitten durch die Mauern seines Zimmers, die, wie er hinzu-
fügte, aus zwei doppelten verschiebbaren Brettwänden bestanden, damit man Alles
sehen und hören könne, was er thue und was er sage.

(Esquirol, übersetzt von Bernhard. I. p. 322.)

XV. Vager Trieb zum Selbstmord, entstanden durch
heftige Furcht bei körperlicher Erschöpfung
. N., ein Schnei-
der, 31 Jahre alt, verfiel durch Onanie in tiefe Entkräftung und musste sich
später wiederholten Mercurialcuren unterwerfen. Beim Ausbruch der Cholera im
Jahre 1831 wurde er durch das Gerücht, dass man die Kranken mit Zangen aus
ihren Wohnungen ziehe und sie auch ausserdem äusserst grausam behandle,
dergestalt mit Entsetzen erfüllt, dass er in Ohnmacht fiel und mit der Cholera
behaftet zu sein glaubte. Er konnte Anfangs vor Angst nicht arbeiten, des
Nachts nicht schlafen und gerieth bei der Vorstellung, dass auch er einer so
schrecklichen Behandlung sich werde unterwerfen müssen, ganz ausser sich; ja
er brachte die Nächte bei Bekannten zu, weil er fürchtete in ein Choleralazareth
abgeholt zu werden. Bei der Arbeit wurde er aus Angst von Gliederzittern be-
fallen, welches er für einen Vorläufer der Cholera um so mehr hielt, da er
hörte, dass die Furcht dazu disponire. Der Appetit verging ihm und er scheute
sich viel zu essen, weil die Menge der Speisen und die meisten Arten derselben
ihm schädlich seien, ja er schwächte durch vieles Hungern seine Verdauung
sehr. Unaufhörlich von Furcht gequält schlief er wenig, träumte viel von Er-
mordungen, Leichenzügen; bei Tage wagte er nicht auszugehen aus Furcht vor
der Krankheit und vor der Polizei. Diese Pein versetzte ihn in eine so reizbare
Gemüthstimmung, dass er durch den Anblick des Schlachtviehes sehr gerührt
wurde, weil er sich vorstellte wie demselben das Messer an die Kehle gesetzt

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[197/0211] Selbstmordtrieb. Nach dem Erwachen hatte sie sogleich heiter nach allem gefragt und mit Erstaunen von ihrem Versuch sich zu ertränken und von der Gefahr, in die sie dadurch gekommen war, gehört. Bei meinem Eintritte Morgens fragte sie mich lachend, was ich wohl von ihr gedacht und gesagt habe und begehrte zu wissen, wie sie zu dem thörichten Einfalle sich ertränken zu wollen habe kommen können, ohne selbst weiter etwas davon zu wissen, oder irgend einen Grund dafür angeben zu können. — Sie ist seither ungeachtet mehrerer Wochenbetten, manchen Unruhen und Schrecken niemals wieder von einem ähnlichen Gedanken befallen worden, und abgerechnet ihre hysterischen Beschwerden und den be- schwerlichen Monatsfluss, immer gesund, heiter und lebenslustig geblieben. (Mende in Henke Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. 1821.) XIV. Trieb zum Selbstmord aus verborgen gehaltenen Halluci- nationen. Ein junger Mann, der ein sehr grosses Vermögen besass, hatte sich der Onanie ergeben, befand sich jedoch vollkommen wohl. Er hatte keine andere Ursache zum Kummer, als die Rückerinnerung an die Revolution, deren Prin- cipien er missbilligte, und hatte schon mehrmals versucht sich das Leben zu nehmen und zwar mit Pistolen, da er sich durch nichts Anderes tödten wollte. Er befand sich zwei Jahre lang unter meiner Aufsicht, hatte während dieser Zeit nicht einen Augenblick irre gesprochen, sondern war heiter, liebenswürdig, sehr unterrichtet und sagte mir manchmal: „Geben Sie mir eine Pistole!“ Warum wollen Sie sich denn tödten? „Weil ich mich langweile.“ Erst nach zwei Jahren gestand er mir, dass er seit langer Zeit Hallucinationen des Gehörs und Gesichts habe. Er glaubte von Polizeiagenten verfolgt zu sein, die er immer hörte und sah, selbst mitten durch die Mauern seines Zimmers, die, wie er hinzu- fügte, aus zwei doppelten verschiebbaren Brettwänden bestanden, damit man Alles sehen und hören könne, was er thue und was er sage. (Esquirol, übersetzt von Bernhard. I. p. 322.) XV. Vager Trieb zum Selbstmord, entstanden durch heftige Furcht bei körperlicher Erschöpfung. N., ein Schnei- der, 31 Jahre alt, verfiel durch Onanie in tiefe Entkräftung und musste sich später wiederholten Mercurialcuren unterwerfen. Beim Ausbruch der Cholera im Jahre 1831 wurde er durch das Gerücht, dass man die Kranken mit Zangen aus ihren Wohnungen ziehe und sie auch ausserdem äusserst grausam behandle, dergestalt mit Entsetzen erfüllt, dass er in Ohnmacht fiel und mit der Cholera behaftet zu sein glaubte. Er konnte Anfangs vor Angst nicht arbeiten, des Nachts nicht schlafen und gerieth bei der Vorstellung, dass auch er einer so schrecklichen Behandlung sich werde unterwerfen müssen, ganz ausser sich; ja er brachte die Nächte bei Bekannten zu, weil er fürchtete in ein Choleralazareth abgeholt zu werden. Bei der Arbeit wurde er aus Angst von Gliederzittern be- fallen, welches er für einen Vorläufer der Cholera um so mehr hielt, da er hörte, dass die Furcht dazu disponire. Der Appetit verging ihm und er scheute sich viel zu essen, weil die Menge der Speisen und die meisten Arten derselben ihm schädlich seien, ja er schwächte durch vieles Hungern seine Verdauung sehr. Unaufhörlich von Furcht gequält schlief er wenig, träumte viel von Er- mordungen, Leichenzügen; bei Tage wagte er nicht auszugehen aus Furcht vor der Krankheit und vor der Polizei. Diese Pein versetzte ihn in eine so reizbare Gemüthstimmung, dass er durch den Anblick des Schlachtviehes sehr gerührt wurde, weil er sich vorstellte wie demselben das Messer an die Kehle gesetzt

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/211>, abgerufen am 25.11.2024.