Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite
Hauptformen der Melancholie.
1) Die in sich versunkene Schwermuth, die Melancholie
mit Stumpfsinn
(von den französischen Schriftstellern, Georget,
Etoc-Demazy, Baillarger etc. meist mit dem wenig passenden
Namen der Stupidite bezeichnet, von letzterem aber ihrem Wesen
nach richtig erkannt *).
2) Die Schwermuth mit Aeusserung negativer zerstören-
der Triebe, namentlich mit einzelnen Gewaltthaten
,
theils gegen sich selbst (die s. g. Selbstmordmonomanie), theils
gegen andere Personen und leblose Objecte (Mordtrieb, Zerstörungs-
trieb, soweit eben diese Fälle der Melancholie angehören).
3) Die Schwermuth mit anhaltender Willens-Aufregung,
im Uebergange zur Tobsucht.

Drittes Capitel.
Die Schwermuth mit Stumpfsinn.
§. 100.

Die Form der Schwermuth, wo sich der höchste Grad des In-
sichversunkenseins unter der äusseren Form des Stumpfsinns dar-
stellt, hat nicht nur wegen der ausgezeichneten psychischen Sym-
ptome und der in manchen Fällen vorhandenen characteristischen
anatomischen Störungen des Gehirns ein hohes theoretisches, sondern
auch wegen der häufigen und leichten Verwechslung mit dem Blöd-
sinn, welche zu bedeutenden prognostischen und therapeutischen
Irrthümern führen kann, eben so viel practisches Interesse.

Wirklich stellen in den höheren Graden dieser Zustände die
Kranken äusserlich ein Bild des Blödsinns dar. Sie sind gänzlich
verstummt, vollkommen unthätig, ohne stärkere äussere Anlässe fast
unbeweglich, ihr Aussehen ist stupid, ihr Gesichtsausdruck der einer
allgemeinen tiefen psychischen Oppression, einer wahren Vernichtung;
nur der Blick solcher Kranken zeigt nicht die dem Blödsinn ange-
hörige Nullität, sondern den Ausdruck eines schmerzlichen Affects, der
Traurigkeit, Angst, oder ein insichgekehrtes Staunen. In den höchsten
Graden ist meist eine bald partielle (Sc. Pinel, traite de pathol.
cerebrale. Par. 1844 p. 250. Abh. VIII.), bald allgemeine Anästhesie

*) Baillarger, de l'etat, designe chez les alienes sous le nom de Stupi-
dite. Annales med. psychol. I. 1843. p. 76 seqq. p. 256 seqq.
Hauptformen der Melancholie.
1) Die in sich versunkene Schwermuth, die Melancholie
mit Stumpfsinn
(von den französischen Schriftstellern, Georget,
Etoc-Demazy, Baillarger etc. meist mit dem wenig passenden
Namen der Stupidité bezeichnet, von letzterem aber ihrem Wesen
nach richtig erkannt *).
2) Die Schwermuth mit Aeusserung negativer zerstören-
der Triebe, namentlich mit einzelnen Gewaltthaten
,
theils gegen sich selbst (die s. g. Selbstmordmonomanie), theils
gegen andere Personen und leblose Objecte (Mordtrieb, Zerstörungs-
trieb, soweit eben diese Fälle der Melancholie angehören).
3) Die Schwermuth mit anhaltender Willens-Aufregung,
im Uebergange zur Tobsucht.

Drittes Capitel.
Die Schwermuth mit Stumpfsinn.
§. 100.

Die Form der Schwermuth, wo sich der höchste Grad des In-
sichversunkenseins unter der äusseren Form des Stumpfsinns dar-
stellt, hat nicht nur wegen der ausgezeichneten psychischen Sym-
ptome und der in manchen Fällen vorhandenen characteristischen
anatomischen Störungen des Gehirns ein hohes theoretisches, sondern
auch wegen der häufigen und leichten Verwechslung mit dem Blöd-
sinn, welche zu bedeutenden prognostischen und therapeutischen
Irrthümern führen kann, eben so viel practisches Interesse.

Wirklich stellen in den höheren Graden dieser Zustände die
Kranken äusserlich ein Bild des Blödsinns dar. Sie sind gänzlich
verstummt, vollkommen unthätig, ohne stärkere äussere Anlässe fast
unbeweglich, ihr Aussehen ist stupid, ihr Gesichtsausdruck der einer
allgemeinen tiefen psychischen Oppression, einer wahren Vernichtung;
nur der Blick solcher Kranken zeigt nicht die dem Blödsinn ange-
hörige Nullität, sondern den Ausdruck eines schmerzlichen Affects, der
Traurigkeit, Angst, oder ein insichgekehrtes Staunen. In den höchsten
Graden ist meist eine bald partielle (Sc. Pinel, traité de pathol.
cérébrale. Par. 1844 p. 250. Abh. VIII.), bald allgemeine Anästhesie

*) Baillarger, de l’état, désigné chez les aliénés sous le nom de Stupi-
dité. Annales med. psychol. I. 1843. p. 76 seqq. p. 256 seqq.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0200" n="186"/>
              <fw place="top" type="header">Hauptformen der Melancholie.</fw><lb/>
              <list>
                <item>1) <hi rendition="#g">Die in sich versunkene Schwermuth, die Melancholie<lb/>
mit Stumpfsinn</hi> (von den französischen Schriftstellern, Georget,<lb/>
Etoc-Demazy, Baillarger etc. meist mit dem wenig passenden<lb/>
Namen der Stupidité bezeichnet, von letzterem aber ihrem Wesen<lb/>
nach richtig erkannt <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#g">Baillarger</hi>, de l&#x2019;état, désigné chez les aliénés sous le nom de Stupi-<lb/>
dité. Annales med. psychol. I. 1843. p. 76 seqq. p. 256 seqq.</note>.</item><lb/>
                <item>2) <hi rendition="#g">Die Schwermuth mit Aeusserung negativer zerstören-<lb/>
der Triebe, namentlich mit einzelnen Gewaltthaten</hi>,<lb/>
theils gegen sich selbst (die s. g. Selbstmordmonomanie), theils<lb/>
gegen andere Personen und leblose Objecte (Mordtrieb, Zerstörungs-<lb/>
trieb, soweit eben diese Fälle der Melancholie angehören).</item><lb/>
                <item>3) <hi rendition="#g">Die Schwermuth mit anhaltender Willens-Aufregung</hi>,<lb/>
im Uebergange zur Tobsucht.</item>
              </list>
            </div>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#b">Drittes Capitel.</hi><lb/><hi rendition="#i">Die Schwermuth mit Stumpfsinn</hi>.</head><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 100.</head><lb/>
              <p>Die Form der Schwermuth, wo sich der höchste Grad des In-<lb/>
sichversunkenseins unter der äusseren Form des Stumpfsinns dar-<lb/>
stellt, hat nicht nur wegen der ausgezeichneten psychischen Sym-<lb/>
ptome und der in manchen Fällen vorhandenen characteristischen<lb/>
anatomischen Störungen des Gehirns ein hohes theoretisches, sondern<lb/>
auch wegen der häufigen und leichten Verwechslung mit dem Blöd-<lb/>
sinn, welche zu bedeutenden prognostischen und therapeutischen<lb/>
Irrthümern führen kann, eben so viel practisches Interesse.</p><lb/>
              <p>Wirklich stellen in den höheren Graden dieser Zustände die<lb/>
Kranken äusserlich ein Bild des Blödsinns dar. Sie sind gänzlich<lb/>
verstummt, vollkommen unthätig, ohne stärkere äussere Anlässe fast<lb/>
unbeweglich, ihr Aussehen ist stupid, ihr Gesichtsausdruck der einer<lb/>
allgemeinen tiefen psychischen Oppression, einer wahren Vernichtung;<lb/>
nur der Blick solcher Kranken zeigt nicht die dem Blödsinn ange-<lb/>
hörige Nullität, sondern den Ausdruck eines schmerzlichen Affects, der<lb/>
Traurigkeit, Angst, oder ein insichgekehrtes Staunen. In den höchsten<lb/>
Graden ist meist eine bald partielle (Sc. Pinel, traité de pathol.<lb/>
cérébrale. Par. 1844 p. 250. Abh. VIII.), bald allgemeine Anästhesie<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[186/0200] Hauptformen der Melancholie. 1) Die in sich versunkene Schwermuth, die Melancholie mit Stumpfsinn (von den französischen Schriftstellern, Georget, Etoc-Demazy, Baillarger etc. meist mit dem wenig passenden Namen der Stupidité bezeichnet, von letzterem aber ihrem Wesen nach richtig erkannt *). 2) Die Schwermuth mit Aeusserung negativer zerstören- der Triebe, namentlich mit einzelnen Gewaltthaten, theils gegen sich selbst (die s. g. Selbstmordmonomanie), theils gegen andere Personen und leblose Objecte (Mordtrieb, Zerstörungs- trieb, soweit eben diese Fälle der Melancholie angehören). 3) Die Schwermuth mit anhaltender Willens-Aufregung, im Uebergange zur Tobsucht. Drittes Capitel. Die Schwermuth mit Stumpfsinn. §. 100. Die Form der Schwermuth, wo sich der höchste Grad des In- sichversunkenseins unter der äusseren Form des Stumpfsinns dar- stellt, hat nicht nur wegen der ausgezeichneten psychischen Sym- ptome und der in manchen Fällen vorhandenen characteristischen anatomischen Störungen des Gehirns ein hohes theoretisches, sondern auch wegen der häufigen und leichten Verwechslung mit dem Blöd- sinn, welche zu bedeutenden prognostischen und therapeutischen Irrthümern führen kann, eben so viel practisches Interesse. Wirklich stellen in den höheren Graden dieser Zustände die Kranken äusserlich ein Bild des Blödsinns dar. Sie sind gänzlich verstummt, vollkommen unthätig, ohne stärkere äussere Anlässe fast unbeweglich, ihr Aussehen ist stupid, ihr Gesichtsausdruck der einer allgemeinen tiefen psychischen Oppression, einer wahren Vernichtung; nur der Blick solcher Kranken zeigt nicht die dem Blödsinn ange- hörige Nullität, sondern den Ausdruck eines schmerzlichen Affects, der Traurigkeit, Angst, oder ein insichgekehrtes Staunen. In den höchsten Graden ist meist eine bald partielle (Sc. Pinel, traité de pathol. cérébrale. Par. 1844 p. 250. Abh. VIII.), bald allgemeine Anästhesie *) Baillarger, de l’état, désigné chez les aliénés sous le nom de Stupi- dité. Annales med. psychol. I. 1843. p. 76 seqq. p. 256 seqq.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/200
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/200>, abgerufen am 27.11.2024.