nennend. Sobald dieser Dämon sich hören liess, veränderten sich auch die Ge- sichtszüge des Mädchens sogleich höchst auffallend und es trat jedesmal ein wahrhaft dämonischer Blick ein, von dem man in der Messiade, auf dem Bilde, wo der Teufel Jesu einen Stein bietet, eine Idee bekommt.
Am 26. Januar, Mittags 11 Uhr, zu derselben Stunde, welche das Mädchen im wachen Zustand, nach ihrer Behauptung von einem Engel belehrt, schon vor einigen Tagen als ihre Erlösungsstunde angekündigt hatte, erfolgte das Aufhören dieser Zufälle. Das Letzte, was gehört wurde, war eine Stimme aus dem Munde des Mädchens: "Fahre aus, du unsauberer Geist, aus diesem Kinde! Weisst du nicht, dass dieses Kind mein Liebstes ist?" dann erwachte sie zum Bewusstsein. Am 31. Januar stellte sich derselbe Zustand mit denselben Symptomen wieder ein. Doch kamen nach und nach mehre neue Stimmen hinzu, bis die Zahl dieser, von einander theils im Ton, theils in der Sprache, theils nach dem Inhalt augenscheinlich verschiedenen Stimmen auf sechs gestiegen war, von denen sich jede als die Stimme eines besondern Individuums geltend machte, und auch als solche von jener vorher so oft gehörten Stimme angekündigt wurde. Die Heftigkeit des Tobens, Fluchens, Lästerns, Scheltens u. s. w. erreichte in dieser Periode der Krankheit den höchsten Grad, und die Zwischenzeiten des Bewusstseins, in welchen übrigens das Mädchen durchaus keine Erinnerung an die Vorfälle im Paroxismus hatte, sondern still und fromm betete und las, wurden seltener und kürzer. Der 9. Februar, der ebenfalls schon am 31. Januar als Befreiungstag bezeichnet wurde, machte auch diesem Jammer ein Ende, und ähnlich dem ersten Male, liessen sich den 9. Februar Mittags 11 Uhr, nachdem jene Stimme wiederholt ihren Abschied angekündigt hatte, aus dem Munde des Mädchens die Worte hören: "Fahre aus, du unsauberer Geist! das ist ein Zeichen der letzten Zeit!" Das Mädchen erwachte und ist seither gesund geblieben. (Kerner, Geschichten Besessener. Stuttg. 1834. p. 104.)
§. 99.
2) Nicht eben selten kommt bei den Schwermüthigen der Wahn vor, der eigenen Persönlichkeit verlustig geworden und verwandelt zu sein -- Melancholia metamorphosis. Schon oben ist der auf allge- meinen und partialen Dys- oder Anästhesieen beruhenden Vorstellungen, gestorben zu sein, Glieder aus Holz etc. zu haben, und ebenso des aus Hallucinationen hervorgehenden Wahns einer Verwandlung in ein hässliches Thier etc. Erwähnung geschehen. Von fast noch grösserem psychologischem und pathologischem Interesse sind die Fälle, wo die Kranken ihr Geschlecht verwandelt glauben, Männer sich für Weiber, Weiber für Männer halten. Es gehört dieser Wahn allerdings nicht specifisch der Schwermuth an, kann sich aber während ihres Be- stehens ausbilden, und scheint in manchen Fällen durch Erkrankung der Genitalien selbst, mit der die sexuellen Empfindungen untergehen, hervorgerufen zu werden.
So erzählt Lallemand von einem Kranken, der sich für ein Weib hielt und Briefe an einen imaginären Liebhaber schrieb; die Section wies Vergrösserung
Melancholia metamorphosis.
nennend. Sobald dieser Dämon sich hören liess, veränderten sich auch die Ge- sichtszüge des Mädchens sogleich höchst auffallend und es trat jedesmal ein wahrhaft dämonischer Blick ein, von dem man in der Messiade, auf dem Bilde, wo der Teufel Jesu einen Stein bietet, eine Idee bekommt.
Am 26. Januar, Mittags 11 Uhr, zu derselben Stunde, welche das Mädchen im wachen Zustand, nach ihrer Behauptung von einem Engel belehrt, schon vor einigen Tagen als ihre Erlösungsstunde angekündigt hatte, erfolgte das Aufhören dieser Zufälle. Das Letzte, was gehört wurde, war eine Stimme aus dem Munde des Mädchens: „Fahre aus, du unsauberer Geist, aus diesem Kinde! Weisst du nicht, dass dieses Kind mein Liebstes ist?“ dann erwachte sie zum Bewusstsein. Am 31. Januar stellte sich derselbe Zustand mit denselben Symptomen wieder ein. Doch kamen nach und nach mehre neue Stimmen hinzu, bis die Zahl dieser, von einander theils im Ton, theils in der Sprache, theils nach dem Inhalt augenscheinlich verschiedenen Stimmen auf sechs gestiegen war, von denen sich jede als die Stimme eines besondern Individuums geltend machte, und auch als solche von jener vorher so oft gehörten Stimme angekündigt wurde. Die Heftigkeit des Tobens, Fluchens, Lästerns, Scheltens u. s. w. erreichte in dieser Periode der Krankheit den höchsten Grad, und die Zwischenzeiten des Bewusstseins, in welchen übrigens das Mädchen durchaus keine Erinnerung an die Vorfälle im Paroxismus hatte, sondern still und fromm betete und las, wurden seltener und kürzer. Der 9. Februar, der ebenfalls schon am 31. Januar als Befreiungstag bezeichnet wurde, machte auch diesem Jammer ein Ende, und ähnlich dem ersten Male, liessen sich den 9. Februar Mittags 11 Uhr, nachdem jene Stimme wiederholt ihren Abschied angekündigt hatte, aus dem Munde des Mädchens die Worte hören: „Fahre aus, du unsauberer Geist! das ist ein Zeichen der letzten Zeit!“ Das Mädchen erwachte und ist seither gesund geblieben. (Kerner, Geschichten Besessener. Stuttg. 1834. p. 104.)
§. 99.
2) Nicht eben selten kommt bei den Schwermüthigen der Wahn vor, der eigenen Persönlichkeit verlustig geworden und verwandelt zu sein — Melancholia metamorphosis. Schon oben ist der auf allge- meinen und partialen Dys- oder Anästhesieen beruhenden Vorstellungen, gestorben zu sein, Glieder aus Holz etc. zu haben, und ebenso des aus Hallucinationen hervorgehenden Wahns einer Verwandlung in ein hässliches Thier etc. Erwähnung geschehen. Von fast noch grösserem psychologischem und pathologischem Interesse sind die Fälle, wo die Kranken ihr Geschlecht verwandelt glauben, Männer sich für Weiber, Weiber für Männer halten. Es gehört dieser Wahn allerdings nicht specifisch der Schwermuth an, kann sich aber während ihres Be- stehens ausbilden, und scheint in manchen Fällen durch Erkrankung der Genitalien selbst, mit der die sexuellen Empfindungen untergehen, hervorgerufen zu werden.
So erzählt Lallemand von einem Kranken, der sich für ein Weib hielt und Briefe an einen imaginären Liebhaber schrieb; die Section wies Vergrösserung
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Melancholia metamorphosis.
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wahrhaft dämonischer Blick ein, von dem man in der Messiade, auf dem Bilde,
wo der Teufel Jesu einen Stein bietet, eine Idee bekommt.
Am 26. Januar, Mittags 11 Uhr, zu derselben Stunde, welche das Mädchen
im wachen Zustand, nach ihrer Behauptung von einem Engel belehrt, schon
vor einigen Tagen als ihre Erlösungsstunde angekündigt hatte, erfolgte das
Aufhören dieser Zufälle. Das Letzte, was gehört wurde, war eine Stimme
aus dem Munde des Mädchens: „Fahre aus, du unsauberer Geist, aus diesem
Kinde! Weisst du nicht, dass dieses Kind mein Liebstes ist?“ dann erwachte sie
zum Bewusstsein. Am 31. Januar stellte sich derselbe Zustand mit denselben
Symptomen wieder ein. Doch kamen nach und nach mehre neue Stimmen hinzu,
bis die Zahl dieser, von einander theils im Ton, theils in der Sprache, theils
nach dem Inhalt augenscheinlich verschiedenen Stimmen auf sechs gestiegen war,
von denen sich jede als die Stimme eines besondern Individuums geltend machte,
und auch als solche von jener vorher so oft gehörten Stimme angekündigt wurde.
Die Heftigkeit des Tobens, Fluchens, Lästerns, Scheltens u. s. w. erreichte in
dieser Periode der Krankheit den höchsten Grad, und die Zwischenzeiten des
Bewusstseins, in welchen übrigens das Mädchen durchaus keine Erinnerung an
die Vorfälle im Paroxismus hatte, sondern still und fromm betete und las, wurden
seltener und kürzer. Der 9. Februar, der ebenfalls schon am 31. Januar als
Befreiungstag bezeichnet wurde, machte auch diesem Jammer ein Ende, und
ähnlich dem ersten Male, liessen sich den 9. Februar Mittags 11 Uhr, nachdem
jene Stimme wiederholt ihren Abschied angekündigt hatte, aus dem Munde des
Mädchens die Worte hören: „Fahre aus, du unsauberer Geist! das ist ein
Zeichen der letzten Zeit!“ Das Mädchen erwachte und ist seither gesund
geblieben. (Kerner, Geschichten Besessener. Stuttg. 1834. p. 104.)
§. 99.
2) Nicht eben selten kommt bei den Schwermüthigen der Wahn
vor, der eigenen Persönlichkeit verlustig geworden und verwandelt zu
sein — Melancholia metamorphosis. Schon oben ist der auf allge-
meinen und partialen Dys- oder Anästhesieen beruhenden Vorstellungen,
gestorben zu sein, Glieder aus Holz etc. zu haben, und ebenso des
aus Hallucinationen hervorgehenden Wahns einer Verwandlung in ein
hässliches Thier etc. Erwähnung geschehen. Von fast noch grösserem
psychologischem und pathologischem Interesse sind die Fälle, wo die
Kranken ihr Geschlecht verwandelt glauben, Männer sich für Weiber,
Weiber für Männer halten. Es gehört dieser Wahn allerdings nicht
specifisch der Schwermuth an, kann sich aber während ihres Be-
stehens ausbilden, und scheint in manchen Fällen durch Erkrankung
der Genitalien selbst, mit der die sexuellen Empfindungen untergehen,
hervorgerufen zu werden.
So erzählt Lallemand von einem Kranken, der sich für ein Weib hielt und
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/198>, abgerufen am 16.02.2025.
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