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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Die Geisteskranken sind Gehirnkranke.
Intelligenz nach ihrem ganzen Umfange geprüft worden, und in vielen derselben,
nämlich in allen Hospitalbeobachtungen, war eine Vergleichung des Geistes-
zustandes nach der Erkrankung oder dem Substanzverluste mit dem früheren
schlechterdings unmöglich; alle feineren Abweichungen mussten hier nothwendig
der Beobachtung entgehen. Nimmt man aber auch die Thatsachen als richtig
an, so beweisen sie nichts gegen unseren Satz. Einmal kommt sehr viel auf
den Sitz der Läsion an; nicht alle Theile des Gehirns stehen in gleich nahem
Verhältnisse zu den Geistesthätigkeiten; einzelne stehen vielmehr in viel näherer
Beziehung zur Muskelbewegung (Pons, Thalami etc.). Ferner ist beim Gehirn,
wie bei allen paarigen Organen, die Möglichkeit eines Ersatzes der Function
durch die gesund gebliebene Hälfte in hohem Grade wahrscheinlich. Endlich findet
man auch in andern wichtigen Organen nicht selten beschränktere anatomische
Läsionen ohne auffallende Störung der Function (chron. Magengeschwür, pleurit.
Adhäsionen, Tuberkel etc.), und man hat gleichfalls Substanzverluste (durch
gangränose Losstossung) z. B. in der Lunge oder im Darme beobachtet, wo nach
erfolgter Heilung die Processe der Respiration, der Verdauung wieder ohne auf-
fallende Störung vor sich giengen. Man wird aber schwerlich solcher Thatsachen
wegen den Satz fallen lassen, dass die Lunge das Respirationsorgan sei und dass
die Verdauung im Darme geschehe.

Noch näheren und directeren Beweis für unsern Satz, dass das
Gehirn das beim Irresein erkrankte Organ sei, liefern die Ergebnisse
der Leichenöffnungen der Irren selbst. Es ist ausser Zweifel, *) dass
man in der Mehrzahl dieser Leichenöffnungen wirklich anatomische
Veränderungen im Gehirne selbst oder seinen Hüllen findet, und dass
diese, da wo überhaupt anatom. Läsionen vorkommen, die einzigen
constanten sind. Der Umstand, dass man nicht immer solche Läsio-
nen findet, vermag diesen Grund nicht zu schwächen. Es verhält sich
hier nicht anders als bei so vielen andern Nerven- und Gehirnkrank-
heiten, der Epilepsie, dem Tetanus etc., deren Sitz im Gehirn oder
Rückenmark, wenn auch in manchen Fällen durch die pathologische
Anatomie nicht ad oculos demonstrirt, doch von Niemanden in Zwei-
fel gezogen wird.

Die Mehrzahl der Geisteskranken bietet aber auch, ausser den
Störungen des Vorstellens und Wollens, noch bedeutende Anomalieen
anderer, dem Gehirne gleichfalls unzweifelhaft angehöriger Functionen
dar. Vor Allem die Hallucinationen, Anomalieen der centralen Sin-
nesthätigkeit, welche zwar nach den Sinnesorganen projicirt und als
peripherisch entstandene empfunden werden, deren Entstehung aber
nothwendig in das Gehirn verlegt werden muss, wie diess z. B. die
Fälle von andauernden Gesichtshallucinationen bei völliger Blindheit
mit Atrophie des N. opticus (Esquirol) unwiderleglich beweisen. Ebenso

*) Wir verweisen auf das betreffende Capitel über die patholog. Anatomie.

Die Geisteskranken sind Gehirnkranke.
Intelligenz nach ihrem ganzen Umfange geprüft worden, und in vielen derselben,
nämlich in allen Hospitalbeobachtungen, war eine Vergleichung des Geistes-
zustandes nach der Erkrankung oder dem Substanzverluste mit dem früheren
schlechterdings unmöglich; alle feineren Abweichungen mussten hier nothwendig
der Beobachtung entgehen. Nimmt man aber auch die Thatsachen als richtig
an, so beweisen sie nichts gegen unseren Satz. Einmal kommt sehr viel auf
den Sitz der Läsion an; nicht alle Theile des Gehirns stehen in gleich nahem
Verhältnisse zu den Geistesthätigkeiten; einzelne stehen vielmehr in viel näherer
Beziehung zur Muskelbewegung (Pons, Thalami etc.). Ferner ist beim Gehirn,
wie bei allen paarigen Organen, die Möglichkeit eines Ersatzes der Function
durch die gesund gebliebene Hälfte in hohem Grade wahrscheinlich. Endlich findet
man auch in andern wichtigen Organen nicht selten beschränktere anatomische
Läsionen ohne auffallende Störung der Function (chron. Magengeschwür, pleurit.
Adhäsionen, Tuberkel etc.), und man hat gleichfalls Substanzverluste (durch
gangränose Losstossung) z. B. in der Lunge oder im Darme beobachtet, wo nach
erfolgter Heilung die Processe der Respiration, der Verdauung wieder ohne auf-
fallende Störung vor sich giengen. Man wird aber schwerlich solcher Thatsachen
wegen den Satz fallen lassen, dass die Lunge das Respirationsorgan sei und dass
die Verdauung im Darme geschehe.

Noch näheren und directeren Beweis für unsern Satz, dass das
Gehirn das beim Irresein erkrankte Organ sei, liefern die Ergebnisse
der Leichenöffnungen der Irren selbst. Es ist ausser Zweifel, *) dass
man in der Mehrzahl dieser Leichenöffnungen wirklich anatomische
Veränderungen im Gehirne selbst oder seinen Hüllen findet, und dass
diese, da wo überhaupt anatom. Läsionen vorkommen, die einzigen
constanten sind. Der Umstand, dass man nicht immer solche Läsio-
nen findet, vermag diesen Grund nicht zu schwächen. Es verhält sich
hier nicht anders als bei so vielen andern Nerven- und Gehirnkrank-
heiten, der Epilepsie, dem Tetanus etc., deren Sitz im Gehirn oder
Rückenmark, wenn auch in manchen Fällen durch die pathologische
Anatomie nicht ad oculos demonstrirt, doch von Niemanden in Zwei-
fel gezogen wird.

Die Mehrzahl der Geisteskranken bietet aber auch, ausser den
Störungen des Vorstellens und Wollens, noch bedeutende Anomalieen
anderer, dem Gehirne gleichfalls unzweifelhaft angehöriger Functionen
dar. Vor Allem die Hallucinationen, Anomalieen der centralen Sin-
nesthätigkeit, welche zwar nach den Sinnesorganen projicirt und als
peripherisch entstandene empfunden werden, deren Entstehung aber
nothwendig in das Gehirn verlegt werden muss, wie diess z. B. die
Fälle von andauernden Gesichtshallucinationen bei völliger Blindheit
mit Atrophie des N. opticus (Esquirol) unwiderleglich beweisen. Ebenso

*) Wir verweisen auf das betreffende Capitel über die patholog. Anatomie.
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[4/0018] Die Geisteskranken sind Gehirnkranke. Intelligenz nach ihrem ganzen Umfange geprüft worden, und in vielen derselben, nämlich in allen Hospitalbeobachtungen, war eine Vergleichung des Geistes- zustandes nach der Erkrankung oder dem Substanzverluste mit dem früheren schlechterdings unmöglich; alle feineren Abweichungen mussten hier nothwendig der Beobachtung entgehen. Nimmt man aber auch die Thatsachen als richtig an, so beweisen sie nichts gegen unseren Satz. Einmal kommt sehr viel auf den Sitz der Läsion an; nicht alle Theile des Gehirns stehen in gleich nahem Verhältnisse zu den Geistesthätigkeiten; einzelne stehen vielmehr in viel näherer Beziehung zur Muskelbewegung (Pons, Thalami etc.). Ferner ist beim Gehirn, wie bei allen paarigen Organen, die Möglichkeit eines Ersatzes der Function durch die gesund gebliebene Hälfte in hohem Grade wahrscheinlich. Endlich findet man auch in andern wichtigen Organen nicht selten beschränktere anatomische Läsionen ohne auffallende Störung der Function (chron. Magengeschwür, pleurit. Adhäsionen, Tuberkel etc.), und man hat gleichfalls Substanzverluste (durch gangränose Losstossung) z. B. in der Lunge oder im Darme beobachtet, wo nach erfolgter Heilung die Processe der Respiration, der Verdauung wieder ohne auf- fallende Störung vor sich giengen. Man wird aber schwerlich solcher Thatsachen wegen den Satz fallen lassen, dass die Lunge das Respirationsorgan sei und dass die Verdauung im Darme geschehe. Noch näheren und directeren Beweis für unsern Satz, dass das Gehirn das beim Irresein erkrankte Organ sei, liefern die Ergebnisse der Leichenöffnungen der Irren selbst. Es ist ausser Zweifel, *) dass man in der Mehrzahl dieser Leichenöffnungen wirklich anatomische Veränderungen im Gehirne selbst oder seinen Hüllen findet, und dass diese, da wo überhaupt anatom. Läsionen vorkommen, die einzigen constanten sind. Der Umstand, dass man nicht immer solche Läsio- nen findet, vermag diesen Grund nicht zu schwächen. Es verhält sich hier nicht anders als bei so vielen andern Nerven- und Gehirnkrank- heiten, der Epilepsie, dem Tetanus etc., deren Sitz im Gehirn oder Rückenmark, wenn auch in manchen Fällen durch die pathologische Anatomie nicht ad oculos demonstrirt, doch von Niemanden in Zwei- fel gezogen wird. Die Mehrzahl der Geisteskranken bietet aber auch, ausser den Störungen des Vorstellens und Wollens, noch bedeutende Anomalieen anderer, dem Gehirne gleichfalls unzweifelhaft angehöriger Functionen dar. Vor Allem die Hallucinationen, Anomalieen der centralen Sin- nesthätigkeit, welche zwar nach den Sinnesorganen projicirt und als peripherisch entstandene empfunden werden, deren Entstehung aber nothwendig in das Gehirn verlegt werden muss, wie diess z. B. die Fälle von andauernden Gesichtshallucinationen bei völliger Blindheit mit Atrophie des N. opticus (Esquirol) unwiderleglich beweisen. Ebenso *) Wir verweisen auf das betreffende Capitel über die patholog. Anatomie.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/18>, abgerufen am 09.11.2024.