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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Irreseins.
seien jetzt vom Kopf bis zu den Füssen in ihr. Jeder Versuch, sie von dem
Ungrund des Wahns zu überzeugen, wird mit Schelten und Drohungen erwiedert.

Nun wird ihr der Vorschlag einer Operation gemacht, durch welche alle Spinnen
unfehlbar entfernt werden müssen. Sie nimmt ihn mit Freuden an, seufzt nach
der Stunde der Operation und spricht von ihrer Heilung mit Hoffnung und Ver-
trauen. Die Operation wird mit einiger Feierlichkeit, um auf die Phantasie der
Kranken einen Eindruck zu machen, in Gegenwart vieler Aerzte vorgenommen,
und besteht in einer leichten Incision in die Haut des Rückens; man lässt einige
in Bereitschaft gehaltene Spinnen über das Bett laufen und gibt an, solche aus-
gezogen zu haben; sie sagt, sie fühle das Ausziehen wohl und freut sich sehr
über dieses Resultat. Diese kleinen Einschnitte werden nun sehr häufig in allen
Gegenden des Körpers wiederholt; während dieses Zeitraums bekommt die Kranke
ein intermittirendes Fieber (Chinin, Antispasmodica), ist immer sehr aufgeregt,
fühlt unerträgliche Schmerzen im ganzen Körper, verfolgt den Arzt mit steten
Bitten neuer Operationen; einmal stürzt sie sich, ohne Schaden zu nehmen, zum
Fenster hinaus, ein anderesmal machte sie Strangulationsversuche. Endlich wird
ihr erklärt, dass jetzt keine Spinnen mehr vorhanden seien, und um sie davon
zu überzeugen, werden zwei neue Incisionen, die Schlundsonde und Laxanzen
angewandt. Am 9. September noch wollte sie aus der Anwesenheit der Spinnen
mehre physiologische Phänomene, das Heben und Sinken des Larynx, den Arte-
rienschlag etc. erklären, liess sich aber alsbald überzeugen, dass diese Erschei-
nungen bei allen Menschen vorkommen. Nun trat ein fieberhafter Zustand ein
mit Kopfschmerzen und Ohrensausen, und am 18. September waren alle Symptome
verschwunden. Die Kranke ist völlig ruhig, heiter, dankbar, und wird in der
Küche beschäftigt. Die unvorsichtig gegebene Nachricht vom Tode ihres Mannes
betrübt sie sehr, stört aber ihre geistige Gesundheit in keiner Weise. -- Allein
in dem nächsten, sehr harten Winter, in den dürftigsten Umständen lebend, mit
Kälte und Nahrungssorgen kämpfend, erlitt sie einen Rückfall, mit heftigen
Palpitationen, Agitation, Tobsucht und Selbstmordversuchen. Die Kranke wurde
nun nicht mehr nach ihren Wahnideen behandelt, sondern genas allmählig unter
einsamer Pflege, Begiessungen, Douchen, narcotischen und auf den Darm ablei-
tenden Mitteln.

(Charcellay, annales medieo-psychologiques. II. 1843. p. 485 seqq.)


Zweites Capitel.
Die Melancholie im engern Sinne.
§. 94.

Anomalieen der Selbst-Empfindung, der Triebe und
des Wollens
. Nachdem in manchen Fällen längere oder kürzere
Zeit ein Zustand geistigen und körperlichen unbestimmten Uebel-
befindens, oft mit hypochondrischer Verstimmung, mit Niedergeschla-
genheit und Unruhe, manchmal mit Empfindung der Gefahr, irre zu
werden, vorausgegangen ist, wird immer mehr ein psychisch-schmerz-

Irreseins.
seien jetzt vom Kopf bis zu den Füssen in ihr. Jeder Versuch, sie von dem
Ungrund des Wahns zu überzeugen, wird mit Schelten und Drohungen erwiedert.

Nun wird ihr der Vorschlag einer Operation gemacht, durch welche alle Spinnen
unfehlbar entfernt werden müssen. Sie nimmt ihn mit Freuden an, seufzt nach
der Stunde der Operation und spricht von ihrer Heilung mit Hoffnung und Ver-
trauen. Die Operation wird mit einiger Feierlichkeit, um auf die Phantasie der
Kranken einen Eindruck zu machen, in Gegenwart vieler Aerzte vorgenommen,
und besteht in einer leichten Incision in die Haut des Rückens; man lässt einige
in Bereitschaft gehaltene Spinnen über das Bett laufen und gibt an, solche aus-
gezogen zu haben; sie sagt, sie fühle das Ausziehen wohl und freut sich sehr
über dieses Resultat. Diese kleinen Einschnitte werden nun sehr häufig in allen
Gegenden des Körpers wiederholt; während dieses Zeitraums bekommt die Kranke
ein intermittirendes Fieber (Chinin, Antispasmodica), ist immer sehr aufgeregt,
fühlt unerträgliche Schmerzen im ganzen Körper, verfolgt den Arzt mit steten
Bitten neuer Operationen; einmal stürzt sie sich, ohne Schaden zu nehmen, zum
Fenster hinaus, ein anderesmal machte sie Strangulationsversuche. Endlich wird
ihr erklärt, dass jetzt keine Spinnen mehr vorhanden seien, und um sie davon
zu überzeugen, werden zwei neue Incisionen, die Schlundsonde und Laxanzen
angewandt. Am 9. September noch wollte sie aus der Anwesenheit der Spinnen
mehre physiologische Phänomene, das Heben und Sinken des Larynx, den Arte-
rienschlag etc. erklären, liess sich aber alsbald überzeugen, dass diese Erschei-
nungen bei allen Menschen vorkommen. Nun trat ein fieberhafter Zustand ein
mit Kopfschmerzen und Ohrensausen, und am 18. September waren alle Symptome
verschwunden. Die Kranke ist völlig ruhig, heiter, dankbar, und wird in der
Küche beschäftigt. Die unvorsichtig gegebene Nachricht vom Tode ihres Mannes
betrübt sie sehr, stört aber ihre geistige Gesundheit in keiner Weise. — Allein
in dem nächsten, sehr harten Winter, in den dürftigsten Umständen lebend, mit
Kälte und Nahrungssorgen kämpfend, erlitt sie einen Rückfall, mit heftigen
Palpitationen, Agitation, Tobsucht und Selbstmordversuchen. Die Kranke wurde
nun nicht mehr nach ihren Wahnideen behandelt, sondern genas allmählig unter
einsamer Pflege, Begiessungen, Douchen, narcotischen und auf den Darm ablei-
tenden Mitteln.

(Charcellay, annales médieo-psychologiques. II. 1843. p. 485 seqq.)


Zweites Capitel.
Die Melancholie im engern Sinne.
§. 94.

Anomalieen der Selbst-Empfindung, der Triebe und
des Wollens
. Nachdem in manchen Fällen längere oder kürzere
Zeit ein Zustand geistigen und körperlichen unbestimmten Uebel-
befindens, oft mit hypochondrischer Verstimmung, mit Niedergeschla-
genheit und Unruhe, manchmal mit Empfindung der Gefahr, irre zu
werden, vorausgegangen ist, wird immer mehr ein psychisch-schmerz-

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[165/0179] Irreseins. seien jetzt vom Kopf bis zu den Füssen in ihr. Jeder Versuch, sie von dem Ungrund des Wahns zu überzeugen, wird mit Schelten und Drohungen erwiedert. Nun wird ihr der Vorschlag einer Operation gemacht, durch welche alle Spinnen unfehlbar entfernt werden müssen. Sie nimmt ihn mit Freuden an, seufzt nach der Stunde der Operation und spricht von ihrer Heilung mit Hoffnung und Ver- trauen. Die Operation wird mit einiger Feierlichkeit, um auf die Phantasie der Kranken einen Eindruck zu machen, in Gegenwart vieler Aerzte vorgenommen, und besteht in einer leichten Incision in die Haut des Rückens; man lässt einige in Bereitschaft gehaltene Spinnen über das Bett laufen und gibt an, solche aus- gezogen zu haben; sie sagt, sie fühle das Ausziehen wohl und freut sich sehr über dieses Resultat. Diese kleinen Einschnitte werden nun sehr häufig in allen Gegenden des Körpers wiederholt; während dieses Zeitraums bekommt die Kranke ein intermittirendes Fieber (Chinin, Antispasmodica), ist immer sehr aufgeregt, fühlt unerträgliche Schmerzen im ganzen Körper, verfolgt den Arzt mit steten Bitten neuer Operationen; einmal stürzt sie sich, ohne Schaden zu nehmen, zum Fenster hinaus, ein anderesmal machte sie Strangulationsversuche. Endlich wird ihr erklärt, dass jetzt keine Spinnen mehr vorhanden seien, und um sie davon zu überzeugen, werden zwei neue Incisionen, die Schlundsonde und Laxanzen angewandt. Am 9. September noch wollte sie aus der Anwesenheit der Spinnen mehre physiologische Phänomene, das Heben und Sinken des Larynx, den Arte- rienschlag etc. erklären, liess sich aber alsbald überzeugen, dass diese Erschei- nungen bei allen Menschen vorkommen. Nun trat ein fieberhafter Zustand ein mit Kopfschmerzen und Ohrensausen, und am 18. September waren alle Symptome verschwunden. Die Kranke ist völlig ruhig, heiter, dankbar, und wird in der Küche beschäftigt. Die unvorsichtig gegebene Nachricht vom Tode ihres Mannes betrübt sie sehr, stört aber ihre geistige Gesundheit in keiner Weise. — Allein in dem nächsten, sehr harten Winter, in den dürftigsten Umständen lebend, mit Kälte und Nahrungssorgen kämpfend, erlitt sie einen Rückfall, mit heftigen Palpitationen, Agitation, Tobsucht und Selbstmordversuchen. Die Kranke wurde nun nicht mehr nach ihren Wahnideen behandelt, sondern genas allmählig unter einsamer Pflege, Begiessungen, Douchen, narcotischen und auf den Darm ablei- tenden Mitteln. (Charcellay, annales médieo-psychologiques. II. 1843. p. 485 seqq.) Zweites Capitel. Die Melancholie im engern Sinne. §. 94. Anomalieen der Selbst-Empfindung, der Triebe und des Wollens. Nachdem in manchen Fällen längere oder kürzere Zeit ein Zustand geistigen und körperlichen unbestimmten Uebel- befindens, oft mit hypochondrischer Verstimmung, mit Niedergeschla- genheit und Unruhe, manchmal mit Empfindung der Gefahr, irre zu werden, vorausgegangen ist, wird immer mehr ein psychisch-schmerz-

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/179>, abgerufen am 22.12.2024.