keit), bald treten einzelne Triebe und Willensimpulse, denen Stoff und Inhalt durch die negative Stimmung gegeben ist, auf, bald end- lich erregt ein höheres Mass des psychischen Schmerzes ausgebreitete, motorische Impulse von unzweckmässigem, convulsivischem Character, die sich als höchste Unruhe äussern, mit deren Andauern und wei- terer Steigerung indessen die melancholischen Zustände einen ganz andern Character annehmen und in eine andere Form -- die Tob- sucht -- übergehen.
Die Beobachtung zeigt, dass die ungemeine Mehrzahl aller psy- chischen Erkrankungen mit solchen Zuständen tiefer Gemüthsverstimmung in der Weise eines depressiven, traurigen Affects anfängt. Guislain hat diese Thatsachen am sorgfältigsten erhoben und am stärksten premirt; auch wir konnten, mit Ausnahme einiger nach Kopfver- letzung oder acuter Meningitis entstandener Fälle, immer einen Zu- stand von Schwermuth als den primären, als den Ausgangspunkt des weitern Irreseins eruiren, und wir nehmen desshalb keinen Anstand, von einen Stadium melancholicum als der ersten Periode der Geisteskrankheiten zu sprechen. Allerdings dauert dasselbe oft nur kurz, es gibt z. B. Fälle von Manie, denen nur einige Tage lang grosse Angst, Unruhe, ein Zustand von Verzweiflung vorausgehen; anderemal wird ein Jahre lang dauerndes melancholisches Stadium wegen seiner milden Form und zeitweiser Remissionen verkannt; endlich kommen Fälle vor, wo einem ersten Erkranken in der Form der Schwermuth eine mehrjährige Periode freien Intervalls folgt, und nun bei einem zweiten Krankheitsanfall das Stadium der Melancholie fehlt (Zeller). -- Die Melancholie, die das Irresein einleitet, stellt sich zuweilen als die unmittelbare Fortsetzung objectiv begründeter schmerzlicher Affecte (psychischer Ursachen des Irreseins) dar, z. B. der Eifersucht, wo sie sich denn vom Seelenschmerze des Gesunden eben durch ihr Uebermass und ihr ungewöhnlich langes, von äusseren Einwirkungen immer unabhängiger und selbstständiger gewordenes Bestehen unterscheidet. In andern Fällen entsteht die Melancholie ohne alle psychische Anlässe, am häufigsten aber zwar aus solchen, aber nicht als ihre directe Fortsetzung, sondern erst nachdem die- selben mannichfache Störungen der Circulation und Ernährung ver- anlasst oder die ganze Constitution untergraben haben.
die Schwermuth.
keit), bald treten einzelne Triebe und Willensimpulse, denen Stoff und Inhalt durch die negative Stimmung gegeben ist, auf, bald end- lich erregt ein höheres Mass des psychischen Schmerzes ausgebreitete, motorische Impulse von unzweckmässigem, convulsivischem Character, die sich als höchste Unruhe äussern, mit deren Andauern und wei- terer Steigerung indessen die melancholischen Zustände einen ganz andern Character annehmen und in eine andere Form — die Tob- sucht — übergehen.
Die Beobachtung zeigt, dass die ungemeine Mehrzahl aller psy- chischen Erkrankungen mit solchen Zuständen tiefer Gemüthsverstimmung in der Weise eines depressiven, traurigen Affects anfängt. Guislain hat diese Thatsachen am sorgfältigsten erhoben und am stärksten premirt; auch wir konnten, mit Ausnahme einiger nach Kopfver- letzung oder acuter Meningitis entstandener Fälle, immer einen Zu- stand von Schwermuth als den primären, als den Ausgangspunkt des weitern Irreseins eruiren, und wir nehmen desshalb keinen Anstand, von einen Stadium melancholicum als der ersten Periode der Geisteskrankheiten zu sprechen. Allerdings dauert dasselbe oft nur kurz, es gibt z. B. Fälle von Manie, denen nur einige Tage lang grosse Angst, Unruhe, ein Zustand von Verzweiflung vorausgehen; anderemal wird ein Jahre lang dauerndes melancholisches Stadium wegen seiner milden Form und zeitweiser Remissionen verkannt; endlich kommen Fälle vor, wo einem ersten Erkranken in der Form der Schwermuth eine mehrjährige Periode freien Intervalls folgt, und nun bei einem zweiten Krankheitsanfall das Stadium der Melancholie fehlt (Zeller). — Die Melancholie, die das Irresein einleitet, stellt sich zuweilen als die unmittelbare Fortsetzung objectiv begründeter schmerzlicher Affecte (psychischer Ursachen des Irreseins) dar, z. B. der Eifersucht, wo sie sich denn vom Seelenschmerze des Gesunden eben durch ihr Uebermass und ihr ungewöhnlich langes, von äusseren Einwirkungen immer unabhängiger und selbstständiger gewordenes Bestehen unterscheidet. In andern Fällen entsteht die Melancholie ohne alle psychische Anlässe, am häufigsten aber zwar aus solchen, aber nicht als ihre directe Fortsetzung, sondern erst nachdem die- selben mannichfache Störungen der Circulation und Ernährung ver- anlasst oder die ganze Constitution untergraben haben.
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die Schwermuth.
keit), bald treten einzelne Triebe und Willensimpulse, denen Stoff
und Inhalt durch die negative Stimmung gegeben ist, auf, bald end-
lich erregt ein höheres Mass des psychischen Schmerzes ausgebreitete,
motorische Impulse von unzweckmässigem, convulsivischem Character,
die sich als höchste Unruhe äussern, mit deren Andauern und wei-
terer Steigerung indessen die melancholischen Zustände einen ganz
andern Character annehmen und in eine andere Form — die Tob-
sucht — übergehen.
Die Beobachtung zeigt, dass die ungemeine Mehrzahl aller psy-
chischen Erkrankungen mit solchen Zuständen tiefer Gemüthsverstimmung
in der Weise eines depressiven, traurigen Affects anfängt. Guislain
hat diese Thatsachen am sorgfältigsten erhoben und am stärksten
premirt; auch wir konnten, mit Ausnahme einiger nach Kopfver-
letzung oder acuter Meningitis entstandener Fälle, immer einen Zu-
stand von Schwermuth als den primären, als den Ausgangspunkt des
weitern Irreseins eruiren, und wir nehmen desshalb keinen Anstand,
von einen Stadium melancholicum als der ersten Periode der
Geisteskrankheiten zu sprechen. Allerdings dauert dasselbe oft nur
kurz, es gibt z. B. Fälle von Manie, denen nur einige Tage lang
grosse Angst, Unruhe, ein Zustand von Verzweiflung vorausgehen;
anderemal wird ein Jahre lang dauerndes melancholisches Stadium
wegen seiner milden Form und zeitweiser Remissionen verkannt;
endlich kommen Fälle vor, wo einem ersten Erkranken in der Form
der Schwermuth eine mehrjährige Periode freien Intervalls folgt, und
nun bei einem zweiten Krankheitsanfall das Stadium der Melancholie
fehlt (Zeller). — Die Melancholie, die das Irresein einleitet, stellt
sich zuweilen als die unmittelbare Fortsetzung objectiv begründeter
schmerzlicher Affecte (psychischer Ursachen des Irreseins) dar, z. B.
der Eifersucht, wo sie sich denn vom Seelenschmerze des Gesunden
eben durch ihr Uebermass und ihr ungewöhnlich langes, von äusseren
Einwirkungen immer unabhängiger und selbstständiger gewordenes
Bestehen unterscheidet. In andern Fällen entsteht die Melancholie
ohne alle psychische Anlässe, am häufigsten aber zwar aus solchen,
aber nicht als ihre directe Fortsetzung, sondern erst nachdem die-
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/167>, abgerufen am 16.02.2025.
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