Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Unterleibskrankheiten.
wie weit etwa ein deplacirtes Oedem, wie weit namentlich die durch
ein energisches Heilverfahren gegen die Pneumonie gesetzte Anämie
zum näheren Anlasse der Krankheit wird, lässt sich nach den vor-
liegenden Daten nicht weiter verfolgen.

Was die Krankheiten des Unterleibs betrifft, so soll in keiner Weise
bestritten werden, dass in Folge ihrer Irresein entstehen könne;
nur ist hier mit jenen, meist in erster Reihe aufgeführten un-
reinlich gebildeten und trüben Categorieen von Verstimmung der
Unterleibsnerven, Stockungen im Portadersystem, Infarctus, gestörtem
Hämorrhoidalprocesse etc. nichts geholfen. Es muss vielmehr davor
gewarnt werden, dass nicht -- wie es schon häufig genug geschah
-- aus mässigen Störungen der Verdauung und des Stuhls, aus den
Empfindungen, die das längere Verweilen des Darminhalts im Colon
verursacht, aus der dunkleren Farbe der Fäces etc. leichtfertig patho-
logische Zustände combinirt werden, von denen eine richtige (ana-
tomische) Pathologie gar nichts weiss. Man läugnet nicht, dass Leber-
und Milzkrankheiten die Circulation behindern können, eben so wenig,
dass auch jene leichteren Störungen der Verdauung mitunter Durch-
gangsmedien der Erkrankung bilden, mittelst deren namentlich die
schädlichen Folgen der psychischen Ursachen wieder secundär auf
das Gehirn rückwirken, und man kann Broussais so gut als den
deutschen Vertheidigern der Infarctuslehre zugeben, dass Darmcanal-
störungen *) in einzelnen Fällen sogar zum Ausgangspunkt der Gehirn-
Erkrankung, und demgemäss auch zum Angriffspunkt der Therapie
werden können. Nur ist hier einerseits auf eine genaue Trennung
derjenigen Intesinalstörungen, welche sich als Folgen der schon vor-
handenen Gehirnreizung präsentiren, von den wirklich causalen,
andrerseits und hauptsächlich auf eine schärfere, anatomische Auf-
fassung und Diagnostik jener chronischen Krankheiten zu dringen.
Die verschiedensten Textur-Erkrankungen der Leber, der Milz, des
Pancreas, der dünnen und dicken Gedärme dürfen nicht promiscue
unter Galenische Categorieen gebracht werden und man muss sich

*) Willis erzählt den merkwürdigen Fall einer jungen Dame, deren Gesund-
heit durch langen, schweren Kummer tief gelitten hatte: nachdem sie ein schwer-
verdauliches Backwerk genossen, ward sie plötzlich von einem Gefühle brennen-
der Hitze in der Herzgrube ergriffen, glaubte, der obere Theil ihres Körpers
stehe in Flammen, lief auf die Strasse hinaus, hatte die Vorstellung, sie sei
höchst gottlos und werde in die Flammen der Hölle geschleppt, Vorstellungen,
die immer wiederkehrten, so oft sich das Gefühl von Brennen erneuerte, etc.
Jakobi l. c. p. 667.

Unterleibskrankheiten.
wie weit etwa ein deplaçirtes Oedem, wie weit namentlich die durch
ein energisches Heilverfahren gegen die Pneumonie gesetzte Anämie
zum näheren Anlasse der Krankheit wird, lässt sich nach den vor-
liegenden Daten nicht weiter verfolgen.

Was die Krankheiten des Unterleibs betrifft, so soll in keiner Weise
bestritten werden, dass in Folge ihrer Irresein entstehen könne;
nur ist hier mit jenen, meist in erster Reihe aufgeführten un-
reinlich gebildeten und trüben Categorieen von Verstimmung der
Unterleibsnerven, Stockungen im Portadersystem, Infarctus, gestörtem
Hämorrhoidalprocesse etc. nichts geholfen. Es muss vielmehr davor
gewarnt werden, dass nicht — wie es schon häufig genug geschah
— aus mässigen Störungen der Verdauung und des Stuhls, aus den
Empfindungen, die das längere Verweilen des Darminhalts im Colon
verursacht, aus der dunkleren Farbe der Fäces etc. leichtfertig patho-
logische Zustände combinirt werden, von denen eine richtige (ana-
tomische) Pathologie gar nichts weiss. Man läugnet nicht, dass Leber-
und Milzkrankheiten die Circulation behindern können, eben so wenig,
dass auch jene leichteren Störungen der Verdauung mitunter Durch-
gangsmedien der Erkrankung bilden, mittelst deren namentlich die
schädlichen Folgen der psychischen Ursachen wieder secundär auf
das Gehirn rückwirken, und man kann Broussais so gut als den
deutschen Vertheidigern der Infarctuslehre zugeben, dass Darmcanal-
störungen *) in einzelnen Fällen sogar zum Ausgangspunkt der Gehirn-
Erkrankung, und demgemäss auch zum Angriffspunkt der Therapie
werden können. Nur ist hier einerseits auf eine genaue Trennung
derjenigen Intesinalstörungen, welche sich als Folgen der schon vor-
handenen Gehirnreizung präsentiren, von den wirklich causalen,
andrerseits und hauptsächlich auf eine schärfere, anatomische Auf-
fassung und Diagnostik jener chronischen Krankheiten zu dringen.
Die verschiedensten Textur-Erkrankungen der Leber, der Milz, des
Pancreas, der dünnen und dicken Gedärme dürfen nicht promiscue
unter Galenische Categorieen gebracht werden und man muss sich

*) Willis erzählt den merkwürdigen Fall einer jungen Dame, deren Gesund-
heit durch langen, schweren Kummer tief gelitten hatte: nachdem sie ein schwer-
verdauliches Backwerk genossen, ward sie plötzlich von einem Gefühle brennen-
der Hitze in der Herzgrube ergriffen, glaubte, der obere Theil ihres Körpers
stehe in Flammen, lief auf die Strasse hinaus, hatte die Vorstellung, sie sei
höchst gottlos und werde in die Flammen der Hölle geschleppt, Vorstellungen,
die immer wiederkehrten, so oft sich das Gefühl von Brennen erneuerte, etc.
Jakobi l. c. p. 667.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0157" n="143"/><fw place="top" type="header">Unterleibskrankheiten.</fw><lb/>
wie weit etwa ein deplaçirtes Oedem, wie weit namentlich die durch<lb/>
ein energisches Heilverfahren gegen die Pneumonie gesetzte Anämie<lb/>
zum näheren Anlasse der Krankheit wird, lässt sich nach den vor-<lb/>
liegenden Daten nicht weiter verfolgen.</p><lb/>
              <p>Was die Krankheiten des Unterleibs betrifft, so soll in keiner Weise<lb/>
bestritten werden, dass in Folge ihrer Irresein entstehen könne;<lb/>
nur ist hier mit jenen, meist in erster Reihe aufgeführten un-<lb/>
reinlich gebildeten und trüben Categorieen von Verstimmung der<lb/>
Unterleibsnerven, Stockungen im Portadersystem, Infarctus, gestörtem<lb/>
Hämorrhoidalprocesse etc. nichts geholfen. Es muss vielmehr davor<lb/>
gewarnt werden, dass nicht &#x2014; wie es schon häufig genug geschah<lb/>
&#x2014; aus mässigen Störungen der Verdauung und des Stuhls, aus den<lb/>
Empfindungen, die das längere Verweilen des Darminhalts im Colon<lb/>
verursacht, aus der dunkleren Farbe der Fäces etc. leichtfertig patho-<lb/>
logische Zustände combinirt werden, von denen eine richtige (ana-<lb/>
tomische) Pathologie gar nichts weiss. Man läugnet nicht, dass Leber-<lb/>
und Milzkrankheiten die Circulation behindern können, eben so wenig,<lb/>
dass auch jene leichteren Störungen der Verdauung mitunter Durch-<lb/>
gangsmedien der Erkrankung bilden, mittelst deren namentlich die<lb/>
schädlichen Folgen der psychischen Ursachen wieder secundär auf<lb/>
das Gehirn rückwirken, und man kann Broussais so gut als den<lb/>
deutschen Vertheidigern der Infarctuslehre zugeben, dass Darmcanal-<lb/>
störungen <note place="foot" n="*)">Willis erzählt den merkwürdigen Fall einer jungen Dame, deren Gesund-<lb/>
heit durch langen, schweren Kummer tief gelitten hatte: nachdem sie ein schwer-<lb/>
verdauliches Backwerk genossen, ward sie plötzlich von einem Gefühle brennen-<lb/>
der Hitze in der Herzgrube ergriffen, glaubte, der obere Theil ihres Körpers<lb/>
stehe in Flammen, lief auf die Strasse hinaus, hatte die Vorstellung, sie sei<lb/>
höchst gottlos und werde in die Flammen der Hölle geschleppt, Vorstellungen,<lb/>
die immer wiederkehrten, so oft sich das Gefühl von Brennen erneuerte, etc.<lb/>
Jakobi l. c. p. 667.</note> in einzelnen Fällen sogar zum Ausgangspunkt der Gehirn-<lb/>
Erkrankung, und demgemäss auch zum Angriffspunkt der Therapie<lb/>
werden können. Nur ist hier einerseits auf eine genaue Trennung<lb/>
derjenigen Intesinalstörungen, welche sich als <hi rendition="#g">Folgen</hi> der schon vor-<lb/>
handenen Gehirnreizung präsentiren, von den wirklich causalen,<lb/>
andrerseits und hauptsächlich auf eine schärfere, anatomische Auf-<lb/>
fassung und Diagnostik jener chronischen Krankheiten zu dringen.<lb/>
Die verschiedensten Textur-Erkrankungen der Leber, der Milz, des<lb/>
Pancreas, der dünnen und dicken Gedärme dürfen nicht promiscue<lb/>
unter Galenische Categorieen gebracht werden und man muss sich<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[143/0157] Unterleibskrankheiten. wie weit etwa ein deplaçirtes Oedem, wie weit namentlich die durch ein energisches Heilverfahren gegen die Pneumonie gesetzte Anämie zum näheren Anlasse der Krankheit wird, lässt sich nach den vor- liegenden Daten nicht weiter verfolgen. Was die Krankheiten des Unterleibs betrifft, so soll in keiner Weise bestritten werden, dass in Folge ihrer Irresein entstehen könne; nur ist hier mit jenen, meist in erster Reihe aufgeführten un- reinlich gebildeten und trüben Categorieen von Verstimmung der Unterleibsnerven, Stockungen im Portadersystem, Infarctus, gestörtem Hämorrhoidalprocesse etc. nichts geholfen. Es muss vielmehr davor gewarnt werden, dass nicht — wie es schon häufig genug geschah — aus mässigen Störungen der Verdauung und des Stuhls, aus den Empfindungen, die das längere Verweilen des Darminhalts im Colon verursacht, aus der dunkleren Farbe der Fäces etc. leichtfertig patho- logische Zustände combinirt werden, von denen eine richtige (ana- tomische) Pathologie gar nichts weiss. Man läugnet nicht, dass Leber- und Milzkrankheiten die Circulation behindern können, eben so wenig, dass auch jene leichteren Störungen der Verdauung mitunter Durch- gangsmedien der Erkrankung bilden, mittelst deren namentlich die schädlichen Folgen der psychischen Ursachen wieder secundär auf das Gehirn rückwirken, und man kann Broussais so gut als den deutschen Vertheidigern der Infarctuslehre zugeben, dass Darmcanal- störungen *) in einzelnen Fällen sogar zum Ausgangspunkt der Gehirn- Erkrankung, und demgemäss auch zum Angriffspunkt der Therapie werden können. Nur ist hier einerseits auf eine genaue Trennung derjenigen Intesinalstörungen, welche sich als Folgen der schon vor- handenen Gehirnreizung präsentiren, von den wirklich causalen, andrerseits und hauptsächlich auf eine schärfere, anatomische Auf- fassung und Diagnostik jener chronischen Krankheiten zu dringen. Die verschiedensten Textur-Erkrankungen der Leber, der Milz, des Pancreas, der dünnen und dicken Gedärme dürfen nicht promiscue unter Galenische Categorieen gebracht werden und man muss sich *) Willis erzählt den merkwürdigen Fall einer jungen Dame, deren Gesund- heit durch langen, schweren Kummer tief gelitten hatte: nachdem sie ein schwer- verdauliches Backwerk genossen, ward sie plötzlich von einem Gefühle brennen- der Hitze in der Herzgrube ergriffen, glaubte, der obere Theil ihres Körpers stehe in Flammen, lief auf die Strasse hinaus, hatte die Vorstellung, sie sei höchst gottlos und werde in die Flammen der Hölle geschleppt, Vorstellungen, die immer wiederkehrten, so oft sich das Gefühl von Brennen erneuerte, etc. Jakobi l. c. p. 667.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/157
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/157>, abgerufen am 25.11.2024.